Flexibilität

„Er muss doch lernen flexibler zu sein“ ist ein gern genommener Satz, wenn es in Gesprächen über Paul um Handlungsplanung und Lernziele geht. „Es kann sich doch nicht alles im Leben nur um ihn drehen und es können sich nicht alle nur nach seinen Bedürfnissen richten“ sind Aussagen, die meist in direktem Zusammenhang zum ersten Satz ebenfalls fallen. Ich bin dann immer hin- und hergerissen, wie ich darauf am besten reagiere. Fange ich nochmal mit Grundlagenaufklärung über Autismus an? Immerhin ist das Problem mit der Handlungsplanung eines der Kernsymptome von Autismus. Sollte ich sarkastisch werden und fragen, ob es nicht auch an der Zeit wäre, dass der Brillenträger seine Brille abnimmt, weil er lernen muss, normal zu sehen? Sollten wir aufhören, Fahrstühle und Rampen zu bauen, weil sich doch nicht alles nur um die Bedürfnisse des Rollstuhlfahrers drehen kann? Sicherlich nicht und Sarkasmus ist auch nicht wirklich hilfreich in Hilfeplangesprächen und Co. Deswegen erkläre ich es meist ausführlich.

Paul hat Probleme mit der Handlungsplanung und der zeitlichen Orientierung. Dies gehört untrennbar zu seinem Autismus dazu. Im Extremfall (unter kompletter Missachtung seiner Bedürfnisse) führt dies dazu, dass er ständige Overloads und Meltdowns hat. Deswegen gibt es verschiedene Hilfen für ihn. Diese Hilfen sind z.B. ein durchstrukturierter Tagesablauf mit wiederkehrenden Ritualen, Tages- und Handlungspläne mit Bildern und Piktogrammen, Zeitstrukturierung durch einen Timer, Kalender, farbige Stundenpläne und mehr. Die Hilfen geben ihm Sicherheit. Er weiß dadurch, was als nächstes passiert, kann einschätzen, wie lange es dauert und was der nächste Schritt bei einer Tätigkeit ist. Durch diese Sicherheit hat er überhaupt erst die Kapazitäten, sich auf irgendetwas einzulassen. Wenn man das jetzt plötzlich weglassen würde „weil er ja lernen muss, flexibler zu sein“, würde man ihn zurück ins Chaos stürzen und ihm jegliche Chance auf Teilhabe verwehren.

Tatsächlich lernt Paul von sich aus, sich selber Strukturen zu schaffen. Dieser Prozess muss aber von ihm ausgehen und kann nicht von außen erzwungen werden. Als wir vor Jahren kurz nach der Diagnosestellung mit Tagesplänen angefangen haben, mussten wir sehr kleinschrittig und detailliert die verschiedenen Stationen seines Tagesablaufs visualisieren. Nach etwas mehr als einem Jahr war Paul so weit, dass er von sich aus verkündete, dass er den Plan für den Ablauf im Kindergarten jetzt erstmal nicht mehr braucht. Und auch zu Hause gingen wir (auf seinen Wunsch!) vom detaillierten Tagesplan zu einem grober strukturierten Wochenplan über. Auch der darf inzwischen leer bleiben, jetzt reicht ihm sein Stundenplan für Schulzeiten und der Monatskalender. Wenn aber größere Veränderungen auf ihn zukommen, dann braucht er auch wieder mehr Sicherheit. In diesem Fall sind tatsächlich seine Bedürfnisse da absolut ausschlaggebend. Durch diesen Halt, den er empfindet ist er aber inzwischen auch in der Lage, relativ kurzfristige Veränderungen wie einen dringenden Arztbesuch zu verkraften, ohne dass gleich der Rest des Tages vollkommen aus den Fugen gerät. Trotzdem ist das für ihn jedesmal eine Kraftanstrengung und er braucht danach Ruhe und die Sicherheit, dass sich an den folgenden Abläufen nicht auch noch etwas ändert.

Man kann Flexibilität nicht erzwingen. Wenn man mögliche und nötige Hilfestellungen verweigert, zeigt man nur, dass man Autismus nicht verstanden hat und Inklusion und das Recht auf Teilhabe nicht wirklich umsetzt. Mehr noch: Mit dieser Denkweise schadet man langfristig dem Kind dabei, sich individuell zu entwickeln.

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Ein Kommentar zu “Flexibilität

  1. Pingback: Flexibilität muss von dem Autisten / der Autistin ausgehen – Autismus – Keep calm and carry on

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