„Das muss Ihnen nicht leid tun.“ So oder in sehr ähnlicher Form habe ich den Dialog schon öfter geführt. Manchmal kommen dann Äußerungen wie diese, dass ein autistisches Kind zu haben doch eine Tragödie sei. Das sehe ich anders. Ich möchte niemandem, der es als Leid oder schreckliches Schicksal empfindet, seine Gefühle absprechen, aber ich habe da einfach eine komplett gegenteilige Haltung. Ich möchte erklären, warum das so ist.
Wohl fast alle Eltern haben während der Schwangerschaft und Neugeborenenzeit Vorstellungen entwickelt, wie ihr Kind wohl sein würde. Pläne geschmiedet und sich ausgemalt, wie das Kind sich entwickelt, älter wird, als Erwachsener leben könnte. Eine meist sehr idealisierte und rosarote Vorstellung. In der Eines nicht vorkommt: Der Gedanke, dass das Kind sich anders entwickelt als ein „Normkind“, dass es vielleicht sogar behindert sein könnte. Auch gesellschaftlich ist dieses Thema noch immer ein Tabu. Wie oft hören Schwangere „Hauptsache, es ist gesund.“? Eine Floskel eigentlich, so dahergesagt. In der Schwangerschaft mit Jonathan habe ich oft gedacht (aber leider nie gesagt) „Nein, Hauptsache es wird geliebt.“
Und dann ist da der Autismus. Er zeigt sich schleichend, anfangs oft nur mit dem diffusen Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Manchmal merken es Eltern schon während der ersten Wochen und Lebensmonate, doch sehr häufig zeigen sich erste deutliche Auffälligkeiten erst nach dem ersten Geburtstag oder sogar noch später mit dem Eintritt in den Kindergarten, wenn die sozialen Anforderungen an das Kind steigen. Aber auch dann ist oft noch der Gedanke an „Normalität“ vorherrschend. Ärzte vertrösten oder reden ausweichend von „Entwicklungsverzögerung“. Als ob es nur ein temporäres Problem wäre und mit ein paar Therapien schnell behoben. Erst wenn tatsächlich das Wort „Autismus“ fällt, fallen die Eltern häufig aus allen Wolken und landen hart auf dem Boden der Realität. In Kombination mit der doch oft eher negativ ausfallenden Berichterstattung über Autismus und den vielen kursierenden Vorurteilen und Klischees ist das ein harter Schock für viele Eltern. Wenn dann auch noch Ärzte, Psychiater oder Therapeuten dazukommen, die düstere Prognosen aussprechen, ist die „Tragödie“, der „schreckliche Schicksalsschlag“ perfekt. Der Traum von der Zukunft des Kindes, den man in der Schwangerschaft und in der Anfangszeit träumte, liegt nur noch in Scherben vor einem.
Das alles hatte ich nicht. Meine Illusionen zerbrachen bevor sie überhaupt richtig begonnen hatten. Statt Kinderzimmermöbel zu bestellen lag ich in der Uniklinik und hoffte, dass die Geburt noch 2 Tage aufgeschoben werden könnte, damit die Cortisonspritzen zur Unterstützung der Lungenreifung optimal wirken könnten. Statt in der ersten Nacht mit meinem Baby zu kuscheln bangte ich, ob ich ihn überhaupt lebend würde sehen können. Während andere werdende Eltern gemütlich durch die Babyläden stöberten und die Zimmer einrichteten fuhr ich jeden Tag fast 2 Stunden mit dem Auto zur Klinik und zurück, um möglichst viel Zeit mit Paul verbringen zu dürfen. Zwischendurch versuchte ich, soviel Muttermilch wie möglich abzupumpen, weil es fast das Einzige war, was ich überhaupt für ihn tun konnte. Immer wieder gab es kritische Situationen, manchmal wachte ich nachts am Telefon und fürchtete mich vor einem bestimmten Anruf. Weil es bedeutet hätte, dass wir dann sofort losfahren hätten müssen, um uns noch verabschieden zu dürfen. Der Anruf blieb zum Glück aus, aber die ganze Situation hat mich und meine Sichtweise auf das Leben verändert. Das Wechselbad der Gefühle, das Schwanken zwischen Hoffen und Bangen, Angst und Zuversicht, verschiebt die Perspektive nachhaltig. Natürlich war ich auch erst geschockt als die Diagnose Autismus gestellt wurde, das lag aber daran, dass ich gar nicht das Wissen hatte, was ich heute habe. Und die Ärzte auch für Paul und seine Zukunft düsterste Prognosen aussprachen. Allerdings nicht zum ersten Mal, das kannten wir schon aus der Frühchenzeit („Er wird nie laufen“). Der Schock hielt nicht lange an. Immerhin ist Paul heute bei mir. Das ist keinesfalls selbstverständlich und hätte auch ganz anders ausgehen können. Ja, er hat seine Probleme und er wird es im Leben nicht so leicht haben wie andere Kinder. Aber eine Tragödie sind weder er noch sein Leben oder sein Autismus.
Heute ist Weltfrühgeborenentag. Neuere Studien zeigen, dass jedes vierte Extremfrühchen Autist ist. Die Gründe sind noch unklar, spielen für mich aber auch keine Rolle. Heute freue ich mich einfach nochmal extra darüber, dass Paul bei uns sein darf. Dass er mit unglaublicher Kraft seinen Lebenswillen bewiesen und sich durchgekämpft hat. Ich denke an die Frühchen, die es nicht geschafft haben. Und ich danke allen, die sich Tag für Tag in ihrem nervenaufreibenden Job für die Kleinsten der Kleinen einsetzen. Okay, ein kleines bisschen eifersüchtig bin ich immer noch, dass Paul sein erstes ausgiebiges Schaumbad bei Schwester Inga nehmen durfte und ich nicht dabei war, aber pssst. Ich wünsche allen Frühcheneltern da draußen viel Kraft und gute Nerven.
Und ich wünsche mir weniger Mitleid und mehr Offenheit.
Ein ganz liebenswerter Text, liebes „butterblumenland“,
bei uns war es ganz ähnlich. Vor auf den Tag genau 20 Jahren habe ich an meinem Geburtstag meinen zwei Tage alten Sohn in den Armen gehalten und mich an diesem wachen, dunkelhaarigen und dunkeläugigen kleinen Jungen erfreut. Er kam etwas mehr als drei Wochen zu früh, was vermutlich noch nicht zu den Frühgeborenen zählt. Und es war nötig, dass er schon kam – obwohl ich weder Wehen, noch sonstwas spürte – sein Kopfumfang war so groß, später hätte er nicht mehr durch den Geburtskanal gepasst. Und da ich schon seit Wochen im Krankenhaus lag (ein dummer LKW-Fahrer, der auf meinen stehenden Wagen aufgefahren war), haben wenigstens Ärzte und Schwestern gemerkt, dass es losging.
Und wie bei Dir war unser Sohn eigentlich vom ersten Tag an ungewöhnlich. Zu viel Geschrei zu immer festen Zeiten und dann der Verdacht auf Taubheit, der sogar erst in der Medizinischen Hochschule entkräftet werden konnte: bei einem sechs Monaten alten Säugling.
Unser Sohn bekam die Diagnose (frühkindlicher Autismus auf hohem Funktionsniveau) erst mit 10 Jahren. Und in diesen 10 Jahren hat uns niemand geglaubt oder unserem Gefühl vertraut, dass er einfach anders war. Alles andere als aufsässig und übergriffig, sondern einfach nur überfordert und völlig überreizt – und von anderen bewusst gereizt. Doch zumeist wird die Schuld bei uns Eltern gesucht, wir wären einfach nicht konsequent genug.
Und heute – nach 20 Jahren? Niemals würde ich ihn anders haben wollen. Ich habe ihn so bekommen, so war das richtig und so sollte es sein. Mein Aufgaben waren andere als die, die ich in der Zeit erwartet hatte, meine Karriere war vorbei … Na und? Mich macht unser Leben glücklich, so wie es ist. Nur auf diesen ganzen Behördenkram und diese Ausgrenzerei, auf das kann ich echt verzichten. Unsere kleine Familie ist an den harten Jahren gewachsen, gemeinsam und zusammen. Ich hadere nicht mit dem Autismus meines Sohnes.
Vor einiger Zeit habe ich das für mich zusammengefasst, was mich in den Jahren belastet hat. Und das war immer die Situation oder diejenigen, die sie ausgelöst haben:
„Das – was mich behindert,
damit lerne ich zu leben.
Der – wer mich behindert,
der lässt mich im Leben leiden.“
© Klara Westhoff
Liebe Klara,
herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag! Und auch deinem Sohn alles Gute nachträglich.
Du sprichst da einige wichtige Punkte an, die das Leben mit einem autistischen Kind tatsächlich massiv erschweren. Die vielen Stolpersteine auf dem Weg zur Diagnose. Der Bürokratiewahnsinn mit Krankenkassen und Behörden. Die unberechtigten Schuldzuweisungen. Die Ausgrenzung. All das kenne ich hier auch und das ist auf jeden Fall mal einen (oder mehrere) gesonderte Beiträge wert.
Dein Fazit nach 20 Jahren berührt mich sehr. Bis dahin haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Und du schreibst, was ich auch ausdrücken wollte. Ich will Paul genau so wie er ist. So ist es richtig.
Ein schönes Zitat. Danke.
Alles Gute auch von mir!
Oja, diese Hürden…. Beamtenwahnsinn…. Hier der Bezirk, da die Krankenkasse…. hachja…
Danke für das schöne Gedicht! Pastt!
Hallo Butterblumenland, danke für Deinen herzlichen und ehrlichen Text!
Ich war so eine Mutter mit rosaroter Brille… und diese ist in schmerzlichen Scherben zerbrochen, als man schon in der Kita den Verdacht auf Autismus äußerte.
Ich wusste damals ja absolut nichts anzufangen mit der Thematik. Für mich war ein Autist jemand, der völlig abgeschottet von der Außenwelt dahinwegetiert…
Maxi ist auch frühkindlicher Autist. Keiner sieht ihm sein „Anderssein“ an. Gut oder schlecht? Ich weiß es nicht… Ich wünschte bloß, dass die Menschen mehr über Autismus wüssten und wenn ich sage: „Maxi spielt nicht mit ihrem Kind, weil er Autist ist“ nicht die Antwort: „Ich glaube, sie irren sich. Er ist doch nur schüchtern.“….bekomme.
Man sieht Maxi die Probleme nicht an und dennoch ist es jetzt in der Schule ganz schlimm…. er ist nicht beschulbar ohne Schulbegleiter. Und auf den warten wir und dank der Praktikantin kann Maxi wenigsten dem unterricht folgen.
Offenheit und auch Aufklärung!
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Danke, butterblumenland und danke kiki0104, für eure Geburtstagsgrüße. Okay, war nicht gerade die subtile Art, um Wünsche zu buhlen, doch wo, wenn nicht im Netz, kann man als Asperger-Mutter sonst mal ein paar freundliche Worte bekommen 😉 Der Freundeskreis hat sich doch sehr dezimiert.
Ich stelle hier den Link zu einer Rezension ein, die ich für die Beschreibung speziell unseres Lebens über 18 Jahre bekommen habe. Du kannst das gerne löschen, butterblumenland, wenn Dir das zuviel Werbung auf Deiner Seite ist. Ich habe das Buch geschrieben, um zu vermeiden, dass auch andere Eltern in diese bösen Fallen tappen, in die mein Sohn, mein Mann und ich immer wieder blauäugig (RW) getappt sind. Wobei mein Sohn alles, nur nicht blauäugig, ist. Er hat von uns dreien das beste Gefühl dafür, wer von den Menschen, die vor uns stehen und von denen wir Hilfe erbitten, falsch ist oder uns wohlgesonnen. Das hat jetzt, wo er erwachsen ist, viele Vorteile. Ich kann mich wunderbar auf seine Einschätzung verlassen.
So, hier der Link: http://www.autismus-buecher.de/autismusbuecher.htm#felix
Wie es weiterging, also bis nach dem Abitur im September, das habe ich auf meiner Facebookseite teilweise berichtet. Und nun? Nun machen wir uns langsam auf den Weg zum Studium, vermutlich der Informatik. Beginn Oktober 2016. Hoffentlich genug Zeit, um all das zu lernen und zu lehren, was unser Sohn noch wissen muss, wofür die letzten Jahre des Behördenirrsinns keine Zeit ließen.
https://www.facebook.com/Klara-Westhoff-1538172966426424/
Und kiki0104? Ich drücke euch fest die Daumen, dass es mit dem Schulbegleiter schnell klappt. Bei uns lief das ähnlich und je mehr Zeit ohne Unterricht verging, umso schlimmer waren die Konsequenzen. Letztendlich Rückstufung in eine andere Klasse. Eigentlich inakzeptabel, doch wir hätten es nur durch einen Schulwechsel ändern können. Hätten wir mal … Doch wer weiß, wofür das alles gut war, wie es eben dann gelaufen ist. Völlig aus dem Ruder, doch zuguterletzt durch jahrelange Schulpause auch ein wieder gesundes Kind, das viele der unsäglichen Traumata mit Hilfe einer fähigen Therapeutin überwinden konnte.
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