Bitte sagt nicht „Wutausbruch“

Mir fällt es immer wieder auf, dass in Beschreibungen über das Verhalten autistischer Kinder von „Wutausbrüchen“ oder auch „Trotzanfällen“ die Rede ist. Ich finde diese Wortwahl fatal. Bei einem Meltdown, also dem totalen Zusammenbruch durch fortwährende Reizüberflutung und Überlastung, kann es zwar auch zu selbst- und fremdaggressivem Verhalten kommen, es hat aber mit Wut oder Trotz überhaupt nichts zu tun. Ein autistischer Meltdown ist etwas völlig anderes. Im Gegensatz zu normalen Wut- oder Trotzanfällen kann das Kind sein Verhalten in einem Meltdown nicht steuern. Es kann ihn auch nicht zielgerichtet einsetzen, um seinen Willen durchzusetzen. Und gerade das wird Eltern autistischer Kinder ja oft an den Kopf geworfen. Man sollte „doch mal konsequenter sein“, „dem Kind nicht alles durchgehen lassen“, sich „nicht manipulieren lassen“, „strenger sein“ und so weiter und so fort. Das kennt ihr vermutlich alle in der einen oder anderen Form. Genau deswegen möchte ich hier dafür plädieren, auf die Wortwahl zu achten.

Ein konsequentes Erziehungsverhalten zeigt bei echten Trotz- und Wutanfällen bei Kindern (auch bei autistischen) tatsächlich Wirkung, bei einem Meltdown ist es aber absolut fehl am Platz. Da hilft oft nur eine Minimierung der Reize, eine Rückzugsmöglichkeit und abwarten. Schimpfen, auf das Kind einreden oder das Belassen in der Überlastungssituation sind kontraproduktiv.

Meine Bitte an euch, liebe Eltern und Fachleute: Wenn ihr über einen Meltdown sprecht oder schreibt, dann nennt ihn auch bitte so, um die Abgrenzung zu Wut- und Trotzanfällen deutlich zu machen. Leider gibt es kein wirklich adäquates deutsches Wort dafür, am ehesten trifft es dann noch der Begriff Zusammenbruch.

Zum Weiterlesen über Overloads, Meltdowns und Shutdowns aus der Innenperspektive:

https://innerwelt.wordpress.com/2013/04/11/overload-melt-und-shutdown/

https://kanner840.wordpress.com/2014/04/15/shutdownoverloadmeltdown/

https://queerdurchsleben.wordpress.com/2015/10/29/piep/

Edit 02.01.2016: Eine sehr anschauliche Grafik, die die Unterschiede sehr schön demostriert.

Wutanfall_Meltdown_Unterschied_deutsch

 

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8 Kommentare zu “Bitte sagt nicht „Wutausbruch“

  1. Das ist gut, das du das mal zur Sprache bringst. Da hast du recht. Ich hab auch immer fälschlicherweise den Begriff Wutanfall benutzt.
    Das hat mich jetzt auch zum weiter nachdenken gebracht.

    Aber man kann bei autistischen Kindern noch eine weitere Form unterscheiden.
    Bei unserer kleinen (6J.) ist es im Prinzip kein Meltdown.
    Es ist ein Emotionsausbruch der negative Art, der aus der niedrigen Frustrationstoleranz resultiert. Dies wiederum, weil die kognitive Entwicklung der emotionalen um Welten voraus ist.
    Beispiel: Wir machen zusammen ein Spiel. Jüngste verliert. Darauf hin bekommt sie ihren Emotionsausbruch. Ich habe sie einmal schon zur Rede gestellt, das mir das Verhalten nicht gefällt. Dann hat sie mir, als sie wieder „runtergekommen“ ist, erklärt, wenn sie verliert, dann fühlt sich das irgendwie falsch an im Kopf. Sie weiß wohl selber, das ihr Verhalten nicht schön ist, kann es aber nicht kontrollieren.

    Gibts dafür irgendeinen fachlichen Ausdruck, sonst bleib ich beim grad gefundenen negativen Emotionsausbruch.
    (Positive Emotionsausbrüche hat sie auch. Sie kann sie bei manchen Dingen, wenn es mit ihren Lieblingsinteressen zu tun hat, immer besonders extrem freuen.)

    • Ich muss gestehen, dass ich solche Dinge tatsächlich unter „Ärger“ abgelegt habe. Und die heftigere Reaktion beim Verlieren beim Spielen eben durch die geringe Frustrationstoleranz erkläre. Da ist tatsächlich im Laufe der Jahre bei Paul auch eine deutliche Besserung erkennbar.

      Ich kenne also keinen „Fachausdruck“ dafür, aber vielleicht fällt ja jemandem meiner Leser etwas ein.

      • Das würde ich als emotionalen Meltdown bezeichnen. Denn auch Emotionen (eigene wie fremde) können reizflutend wirken.
        Das ist es zumindest, wie ich es empfinde.

        Zum ganzen Artikel:
        Danke!
        Mir ist das auch mehrfach schon negativ aufgefallen, dass Meltdowns gerne Wutanfall etc. genannt werden. Für mein Gefühl sind Wut und Trotz Begriffe, die weniger mit meinem emotionalen Zustand in diesen Momenten kaum zu tun haben könnten.

  2. Genau das sage ich den Betreuern, Schulbegleitern und Lehrern auch immer. Die sogenannten „unvorhersehbaren Wutanfälle“ sind keine und sehr wohl vorhersehbar(und oft vermeidbar) wenn die Begleiter drauf achten, wann und unter welchen Bedingungen die Reizüberflutung einsetzt. Kinder können das noch nicht regulieren oder reflektieren, aber bis zu einem gewissen Grad ist es erlernbar die Reizüberflutung zu vermeiden oder einzudämmen. Nach 60 Jahren auf dem Falschen Planeten hab ichs einigermaßen im Griff 😉

  3. Ich sehe das genau so. Wutausbruch impliziert mir etwas bewusstes und gewolltes, denn mit Wut will man seinen Standpunkt durchsetzen (oder? So habe ich mir immer ‚Wut‘ erklärt). Bei ‚uns‘ erfolgt so etwas nicht gezielt, bewusst und mit Kalkül, es ist abrupt, unkalkulierbar und nicht steuerbar.

  4. Pingback: Offener Brief an das ZDF – Elodiylacurious

  5. Ich finde schon auch, dass es sehr wichtig ist, Wutanfälle und Meltdowns zu unterscheiden. Dass Wutanfälle immer ein Ziel haben, kann ich jedoch nicht nachvollziehen. Ich habe öfters mit Cholerikern zusammengearbeitet, die ganz sicher keine Autisten waren – da konnten Kleinigkeiten Auslöser für Wutanfälle sein und das Entfernen der Auslöser hat in dem Moment gar nichts gebracht – da wurde dann gebrüllt und getobt, Mitarbeiter wüst beschimpft, Unterlagen zerfetzt und mit Türen geknallt, ohne dass das in dem Moment irgendwie zu stoppen gewesen wäre.

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