Es ist doch aber einfacher für das Umfeld

Sollte diese Aussage tatsächlich der einzige Maßstab sein, mit dem wir Therapieangebote bewerten? In laufenden ABA-Diskussionen wurde genau dies gesagt. „Egal, wie es für den Autisten ist, das Umfeld hat es ja leichter“. Ich meine nicht, dass dies ein legitimer Maßstab ist. Und für meine Haltung dazu gibt es mehrere Gründe.

Meiner Meinung nach sollten sich Therapieangebote und Förderungen immer daran orientieren, was dem Autisten langfristig hilft. Dazu gehören nun mal auch Dinge wie beispielsweise Stimming. Hilft es dem Autisten denn in irgendeiner Form, wenn man ihm seine Bewältigungs- und Beruhigungswerkzeuge wegnimmt? Nein, denn durch das Unterdrücken und Abtrainieren von Stimming sind die auslösenden Situationen ja nicht weniger reizüberflutend, beunruhigend oder stressig.

Die Bedürfnisse des Umfeldes (bei Kindern sind damit ja meist die Eltern gemeint) werden bei dieser Denkweise über die seelische Gesundheit und das Wohl des Autisten gestellt. Menschen und ihre Bedürfnisse sind aber gleichwertig. Und die Bedürfnisse der Kinder sind rein rechtlich schon höher gestellt als die Bedürfnisse ihrer Eltern. Eltern dürfen seit Jahren ihre Kinder auch nicht mehr schlagen, um sie dadurch zur Ruhe zu bekommen oder sie zum Gehorsam zu erziehen. Und das ist richtig so. Genauso steht im Gesetz, dass Kinder ein Recht auf Erziehung ohne seelische und psychische Erniedrigungen haben. Offenbar gilt das leider nicht, wenn „Therapie“ vorne dran steht und die Zielgruppe behinderte Kinder sind. Warum das so ist bleibt mir bisher verschlossen. Bevor ich dafür keine vernünftige Erklärung bekomme, werde ich immer weiter danach fragen.

An dieser Stelle muss ich mich gerade ziemlich zusammenreißen, damit ich einen halbwegs sachlichen Ton bewahre. Eltern tragen die Verantwortung für ihre Kinder. Was auch bedeutet, dass ich als Elter zuallererst das Wohl meines Kindes vor Augen haben sollte. Wenn ich aber solche Argumente wie „Aber für die Eltern ist es einfacher“ lese, frage ich mich wirklich, ob wir hier über erwachsene Menschen reden. Kommt mir echt nicht so vor. Überraschung: Das Leben mit Kindern ist anstrengend und laut. Das Leben mit autistischen Kindern ist ziemlich häufig noch anstrengender und lauter. Aber es sind Kinder. Die sich selbst nicht ausgesucht haben, geboren zu werden. Kinder sind niemals dafür zuständig, ihre Eltern glücklich zu machen. Kinder sind nicht dafür verantwortlich, die Ehe ihrer Eltern zusammen zu halten. Kinder sind nicht für die Karriere ihrer Eltern verantwortlich. Kinder sind auch nicht dafür verantwortlich, dass Mama irgendwann feststellt, dass sie sich das alles eigentlich ganz anders vorgestellt hat („Babys sind doch so süüüüüß“) und jetzt ihren Frust und ihre schlechte Laune am Kind ablässt. Liebe Eltern: Wenn ihr euch irgendwann mal ertappt, öffentlich Dinge zu schreiben wie „Würden wir unser Kind nicht auf Gehorsam drillen, dann wären wir schon längst geschieden“, dann sucht euch schleunigst einen guten Therapeuten. Für euch, nicht für das Kind!

Inklusion ist ebenfalls ein Argument. Inklusion bedeutet nämlich nicht „Wir lassen dich dabei sein, wenn du dich anpasst“ sondern Inklusion bedeutet, den Menschen so zu nehmen wie er ist. Nicht „Wir passen den Menschen der Umgebung an“ sondern „Wir passen die Umgebung dem Menschen an“. Wenn also jemand argumentiert „Ohne ABA wäre mein Kind nicht inkludierbar“, dann lacht ihn aus. Ist besser als denjenigen zu ohrfeigen, was mein Impuls bei solchem Bullshit ist.

Diese „besser für das Umfeld“-Argumentation hat eine lange Geschichte. Ich werfe hier mal die gute alte „Hysterie“ vor der Begriffsänderung durch Freud in den Ring. Hysterie war eine Krankheit, die Frauen diagnostiziert wurde, die (salopp gesagt) unbequem für ihr Umfeld wurden. „Behandelt“ wurden die Frauen dann unter anderem damit, dass sie verheiratet wurden. Durchaus häufig gegen ihren Willen. Damit sie wieder gefügig werden und ihr Umfeld nicht mehr so belasten. Klar, mein Beispiel ist jetzt besonders drastisch. Ich könnte aber auch das Recht auf körperliche Züchtigung des Mannes gegenüber seiner Ehefrau anführen. Das gab es, damit es für ihn bequemer und einfacher ist. Die Argumentation ist identisch mit der aktuellen, oder? Aber sollten wir gesellschaftlich nicht schon ein paar Jahrzehnte weiter sein?

Zu guter Letzt, bevor das hier wieder in einen Roman ausartet: Die Argumentation ist häufig ein Trugschluss. Was jetzt vielleicht vermeintlich leichter für das Umfeld zu sein scheint, kann in ein paar Jahren drastisch nach hinten losgehen. Und damit beziehe ich mich nicht nur auf die bekannten Spätschäden wie häufigere Depressionen, wenn Autisten zur Anpassung gezwungen werden. Ich denke da auch an Rebellion. Und noch langfristiger an das neue „Umfeld“, wenn die Eltern die Verantwortung irgendwann abgeben. Man kann niemanden mit Zwang zur Selbstständigkeit erziehen, indem man ihm erst vermittelt, dass er und seine Entscheidungen grundsätzlich falsch sind. Und sich dann wundern, dass derjenige auch später noch nur auf Anweisungen handelt, weil er den Sinn hinter seinem Tun gar nicht versteht. Die Einsicht, der Aufbau von Ritualen und Sicherheiten, die geduldigen Erklärungen mögen jetzt zwar anstrengender für das Umfeld sein, aber sie zahlen sich später aus.

Ich verrate euch sogar noch ein Geheimnis: Für mich ist es einfacher, Paul so anzunehmen wie er ist und ihm die Welt zu erklären, dass er sie versteht. Dadurch wird er nämlich sicherer und gelassener und auch ruhiger. Das wiederum kommt auch dem „Umfeld“ zu Gute.

 

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9 Kommentare zu “Es ist doch aber einfacher für das Umfeld

  1. Ein Satz wie „Würden wir unser Kind nicht auf Gehorsam drillen, dann wären wir schon längst geschieden“ ist ja die Bankrotterklärung der Ehe. Wenn man es nicht schafft, mit dem Partner auch in belastenden Situationen zusammenzubleiben, dann sollte man sich besser trennen.

    Bei dem letzten Absatz mt dem schönen Satz „Für mich ist es einfacher, Paul so anzunehmen wie er ist und ihm die Welt zu erklären, dass er sie versteht“ musste ich an den Schattenspringer denken, das Erlebnis mit dem Schulkameraden und der Katze auf Seite 125. Es ist auf Dauer viel einfacher, ruhig und vorsichtig zu warten, bis die Katze von selbst kommt, statt sie mit Gewalt zu packen. Aber wer diese Geduld gar nicht erst aufbringt, der wird das nie erfahren.

  2. Pingback: Markierungen 03/08/2016 - Snippets

  3. Hat dies auf sinnesstille rebloggt und kommentierte:
    Das passt hier mal wieder prima. Danke für diesen Beitrag!
    Mir ist dazu spontan noch eine Ergänzung eingefallen, welche sich auf ein weiteres Argument bezieht:
    „Irgendwann muss das Kind doch lernen, zurecht zu kommen“, oder auch „Wenn sie älter ist, wird man nicht immer so nachsichtig mit ihr umgehen – sie wird lernen müssen, wer hier am Drücker sitzt!“
    (Diese Aussagen sind nicht erfunden. Haben wir genau so zu hören bekommen.)
    Aber ich habe auch ein Geheimnis: Wer die Menschen so kenen lernt, wie sie tatsächlich sind, entdeckt mitunter wertvolle Schätze! 😉

  4. Toller Beitrag!
    Ich (Mutter eines inzwischen erwachsenen Autisten) hätte es um einiges leichter für mich (das Umfeld) und für meinen Sohn gefunden, wenn Ärzte und Institutionen besser über Autisten aufgeklärt gewesen wären. Vor 25 Jahren bin ich von A-Z gerannt um herauszufinden, was mit meinem Sohn nicht stimmt. NIEMAND hat uns geholfen! Das war auch noch vor 7 Jahren so und es ist heute noch so. Es gibt zu wenig kompetente Anlaufstellen, die Ärzte haben immer noch keine Ahnung! Als Elter muss man ständig die Ärzte und das Umfeld aufklären. DAS sollte mal geändert werden, NICHT der Autist selbst!

    Seit Freiburg haben wir Gewissheit was los ist und seit her kann unser Sohn endlich mit uns leben. Wir können Rücksicht auf ihn nehmen, ihn viel besser verstehen. Ein Traum, wenn das schon so gewesen wäre, als er klein war, als wir Hilfe brauchten. Dann hätte er heute auch keine Depressionen und wär schon viel weiter.

    Nach der Diagnose hat sich manches positiv verändert. Es wurde leichter für sein Umfeld und ihn selbst.

    Er begreift sich selbst besser. Bekommt die richtige Unterstützung von uns. Heute kommuniziert er sogar mit anderen und genießt den Kontakt. Er weiß, wie er morgens sich schneller anziehen kann, weil er endlich die richtigen Socken für sich gefunden hat (Diabetikersocken, die nicht drücken). Er kann dazu stehen, weil er weiß, dass er eben anders tickt. Er genießt es Kleidung rauszusuchen, die angenehm weich ist. Er weiß um seine Defizite und testet hier und da rum, wie er diese austricksen kann. Er weiß um seine Stärken und baut diese aus. Und das ganz ohne ABA, nur durch eine richtige Diagnose und Aufklärung.

    Seine Schwächen darf er behalten. Denn er ist auch mit seinen Schwächen ein liebenswürdiger Mensch. Auch wenn er nicht alleine in seinem Leben zurecht kommt. Er ist durch seine Art und sein Wissen eine Bereicherung für sein Umfeld. SO wie er ist!

    Nicht auszudenken wie toll sein Leben sein könnte, wenn es Aufklärung gegeben hätte. DA sollte investiert werden, nicht in ABA, das Menschen seelisch noch weiter zerstört. Die Aufklärung hätte es einfacher für das Umfeld gemacht und für ihn.

  5. Pingback: ABA (ein „bisschen“) eine Hilfe? – Nein – Autismus – Keep calm and carry on

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