Selbstverletzendes Verhalten ist bei Autismus ein ziemlich heißes Eisen (rw). Fast schon ein Tabuthema. Wenn es thematisiert wird, dann meist als Werbung, warum ABA und diverse andere Quacksalbertherapien unbedingt eingesetzt werden müssen, damit der Autist damit aufhört. Das ist mir alles viel zu sehr verkürzt. Deshalb muss das Thema raus aus der Tabuzone, der Schamecke.
Ich schrieb vor über einem Jahr mal einen ziemlich verzweifelten Blogpost, weil ich einfach gedanklich nicht weiterkam und Paul unbedingt helfen wollte. Zum nachlesen:
https://butterblumenland.wordpress.com/2015/11/12/stimming-selbstverletzung-zwang/
Auch damals war mir schon klar, dass selbstverletzendes Verhalten verschiedene Ursachen haben kann. Und dass es wichtig ist, sich dies sehr bewusst zu machen. Inzwischen kann ich das auch deutlich besser in Worte fassen. Deshalb gibt es heute diesen Text.
Bei Paul kommt es auf verschiedenen Wegen zu Verletzungen. Am häufigsten passiert es in einem Meltdown. Dabei kann er seine Handlungen definitiv nicht steuern. Früher rannte er dann auch schon mal wiederholt mit dem Kopf voran gegen eine Wand oder den Türrahmen. Oder er schlug seinen Kopf auf den Boden. Das kommt inzwischen nicht mehr vor. Allerdings schlägt er im Meltdown durchaus manchmal unkontrolliert um sich. Das kann auch mal andere Menschen in seiner Nähe treffen. Auch da ist aber wichtig, sich klarzumachen, dass er niemanden verletzen möchte. Viel häufiger verletzt er sich dabei aber selbst. Weil er Gegenstände trifft, Schrankecken, Tischkanten oder sich auf den harten Boden wirft. Ist der Meltdown dann vorbei, wundert er sich oft, woher er manche Verletzungen wie blutige Kratzer oder blaue Flecken hat. Er kann sich nicht daran erinnern, was passiert ist.
Als nächstes haben wir Selbstverletzungen durch Stimming. Wer nicht weiß, was Stimming ist, bitte hier entlang. Wie in meinem alten Beitrag beschrieben, kommt es bei Paul manchmal zu einer Steigerung, die auch mal darin mündet, dass durch das Stimming Verletzungen entstehen. Auch hier ist ihm nicht bewusst, dass er sich verletzt, die Verletzungen an sich gehören nicht zum Stimming. Um das mal zu veranschaulichen, hier ein Beispiel. Paul hat einen Boxsack, den er gerne nutzt. Zum abreagieren und auch zum Stimming. Er boxt allerdings eher ungern mit Boxhandschuhen, nutzt meistens seine bloßen Fäuste. An Tagen mit großer Belastung schlägt er mitunter so hart zu, dass seine Handknöchel stellenweise aufplatzen. Auch das bemerkt er erst später und ist dann immer ganz zerknirscht. Es tut ihm leid, er hatte nicht vor, sich zu verletzen.
Und dann gab es auch schon Phasen, in denen er sich ganz bewusst verletzen wollte. Sich Schmerzen zufügen wollte. In unserem Fall schlug Paul sich zeitweise heftig mit der Faust ins Gesicht, wenn er sich bestrafen wollte, weil er sich oder seine Leistungen als nicht gut genug empfand. Das (und nur das) tat er mit voller Absicht. Ihm war klar, was er tut und er wollte es so. Zum Glück kam dies jetzt schon länger nicht mehr vor. Ihn so zu erleben, war unglaublich hart für uns Eltern. Damit umzugehen extrem schwierig.
Als vierte Variante gibt es noch selbstverletzendes Verhalten zur Überprüfung der eigenen Körperwahrnehmung. Um sich zu spüren. Anita schrieb darüber einen sehr einfühlsamen und informativen Text.
https://autismuskeepcalmandcaryon.wordpress.com/2017/03/05/schmerzempfinden/
Damit bin ich jetzt auch schon an dem Punkt, warum ich es so wichtig finde, bei selbstverletzendem Verhalten nach den unterschiedlichen Ursachen zu differenzieren. Je nachdem wodurch die Verletzungen entstehen, sind die Ansätze damit umzugehen nämlich völlig verschieden. Bei den Meltdowns ist es meine Verantwortung, ihn – so gut es eben geht – vor Verletzungen zu schützen. Da nützen weder Gespräche noch Schimpftiraden oder Umerziehungsprogramme. Als Paul noch kleiner war und noch mit dem Kopf auf den Boden schlug, habe ich oft den Aufschlag mit meiner bloßen Hand gedämpft. Mich dazwischen geworfen, wenn er gegen den Türrahmen rannte. Darauf geachtet, den Körperkontakt beim Abfangen auf ein Minimum zu beschränken, weil es sonst noch schlimmer geworden wäre. Auch ein Kissen unter den Kopf zu halten half mitunter. Nach den Meltdowns kann man mit Paul reden, mit ihm gemeinsam überlegen, welche Alternativen es gäbe. Im Meltdown selbst kommt nichts davon bei ihm an.
Beim Stimming kann ich behutsam (sehr behutsam) und mit viel Geduld versuchen, ihm alternative Methoden nahe zu bringen. Wie beispielsweise den Boxsack, den er bekam, damit er sich nicht weiter auf die Oberschenkel schlägt, was ja auch zu Verletzungen führte.
Bei den oben genannten bewussten und gezielten Selbstverletzungen half dauerhaft nur konsequentes Eingreifen, wenn wir es denn mitbekamen, und Pauls Selbstwahrnehmung und sein Selbstbewusstsein zu steigern. Bis dahin gab es einige böse Anrufe aus der Schule, wieso Paul denn mit blauen und roten Flecken im Gesicht rumlaufen würde. Und da war es extrem wichtig, erklären zu können, warum das so ist und warum er handelt, wie er handelt. Das hätte nämlich durchaus auch zu Missverständnissen in Richtung Kindesmisshandlung führen können. Deshalb haben wir dieses Verhalten vorsichtshalber auch offensiv Ärzten und der Therapeutin gegenüber thematisiert und dokumentieren lassen.
Wenn man unbewusstes selbstverletzendes Verhalten mit bewusst zugefügten Verletzungen in einen Topf wirft (rw), kann das unter Umständen dazu führen, dass Ärzte, Therapeuten und das Umfeld von völlig falschen Ursachen ausgehen und dementsprechend auch vollkommen ungeeignete Lösungsansätze versuchen. Bis hin zu ABA oder dauerhafter Medikation, weil sich Eltern nicht anders zu helfen wissen und völlig verzweifelt sind. Dabei gäbe es mögliche Ansätze, wenn eben genauer hingesehen würde.
Zum Schluss noch eine weiterführende Leseempfehlung. Das Thema Selbstverletzung aus der Innensicht einer Autistin.
Hat dies auf Semilocon rebloggt.
Wenn ich mich selbst verletze, ist das ausschließlich bei Stimming, wo ich erst hinterher merke, dass ich mir was aufgekratzt oder -geschrammt habe. Während des Verhaltens das zu merken und abzustellen, fällt mir sehr schwer. Deswegen hab ich mir eine kleine Sammlung an Stimtoys zugelegt, um das einzudämmen. So wie Raucher sich manchmal nikotinfreie oder E-Zigaretten zulegen, um die Hände mit etwas Gewohntem zu beschäftigen und trotzdem von dem Rauchen los zu kommen. Auch meine Fingernägel immer sehr kurz halten hilft gut, da ich kurze Fingernägel auch schon aus meiner Geigenzeit gewohnt bin. Das begrenzt allerdings einfach nur den Schaden, es stoppt nicht das Verhalten. Ansonsten meide ich auch Trigger, ich nehme mir beispielsweise nicht zu viel für einen Tag vor.
Kennen wir leider auch alles, Gott sei Dank nicht alles beim gleichen Kind sondern bei uns verteilt es sich, ist halt jeder anders, auch bei den Autisten…
Danke für die anschauliche Erklärung. Ich wusste das alles so noch nicht.
Vielen herzlichen Dank!
Ich bin bei ’stimming‘ erst mal dem Link gefolgt und froh darüber, dass ich wieder etwas gelernt habe was zu meinem Sohn passt..
Ich werde das Thema stimming nun weiter recherchieren und es meinem Mann ans Herz legen.. da gibt es etwas, was daheim einfach immer irgendwie zu Konfrontationen führt. Vielleicht hat das mit dieser Erklärung nun ein Ende und es kehrt Ruhe ein..
herzlichen Dank!! ❤️
Gerne. Solche Rückmeldungen freuen mich immer besonders. Wenn ich merke, dass ich helfen konnte. Viel Erfolg für das Gespräch zu Hause.
Bin selber Autistin. Wenn ich mir nicht mehr zu helfen weis kratze ich mir immer meinen Unterarm auf.
„Beim Stimming kann ich behutsam (sehr behutsam) und mit viel Geduld versuchen, ihm alternative Methoden nahe zu bringen.“ Hast Du hierzu Ideen für eine erwachsene Autistin, die sich als Stimming beisst und bisher seit Jahren versucht hat sich da abzugewöhnen (mich)
Kannst du eingrenzen, was an der Handlung der besonders entlastende Teil ist? Das Beißen oder der Schmerzreiz? Je nachdem, was es ist, könntest du verschiedene Dinge ausprobieren. Von kaubaren Stimmingtoys bis zu Wäscheklammern oder Gummiband zum erzeugen eines Schmerzreizes ohne Infektionsgefahr wie bei Menschenbissen.
Hallo erstmal,
ich bin sehr froh auf den Artikel gestoßen zu sein. In der Förderschule, in der ich mein FSJ gemacht habe, hatten wir einen Schülern mit Downsyndrom und Autismus, der sich regelmäßig zuhause verletzt. Die Eltern und auch die Sonderpädagogen waren ratlos und mich hat das Thema einfach nicht mehr losgelassen. Ich möchte dem Schüler unbedingt helfen! Nachdem ich jetzt den Artikel gelesen habe, werde ich meine Erkenntnisse mit den Sonderpädagogen teilen und versuchen, den Schüler besser zu verstehen. Ich glaube, er macht es als eine Art Reizüberlagerung (also Stimming). Hoffentlich finden wir eine passende und risikoärmere Alternative für ihn. Er kratzt sich nämlich oft am Hals wenn er zuhause ist. Zuletzt, als sein Vater ihm eine Verletzung am Daumen zeigte oder er seine Lieblingsserie sah.
Vielen Dank!
Es freut mich, dass mein Artikel dir hilft. Ich möchte aus heutiger Sicht zu bedenken geben, dass gut abzuwägen ist, ob das selbstverletzende Stimming tatsächlich eine Gefahr für den Schüler ist, oder ob es nur schwer auszuhalten für das Umfeld ist. Falls letzteres zutrifft, würde ich nicht versuchen, daran zu schrauben. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ihr am Ende in eine sich steigernde Spirale geratet. Bis hin zu wirklich gesundheitsgefährdenden Selbstverletzungen. Paul klopft sich auch wieder auf die Hüfte, wir haben ihm einen gepolsterten Protektor gekauft.