Aushalten lernen

Immer und immer wieder lese ich im Zusammenhang mit autistischen Kindern, sie müssten lernen, unangenehme Situationen zu ertragen. Letzte Woche ging es um „Desensibilisierung“ bei Sozialkontakten. Heute um ein Draußentraining mit Stoppuhr. Und ich frage mich, wie man auf so abwegige Ideen kommt. Es hat Gründe, warum Autistinnen und Autisten bestimmte Situationen vermeiden. Selbstschutz. Vor Reizüberflutung und Überlastung. Das wird nicht einfach weg gehen, wenn man sie zwingt, es zu ertragen. Und sie womöglich noch dafür bestraft, wenn sie durch „herausforderndes“ Verhalten ihren Stress zeigen.

Wir haben bei Paul gerade eine ähnliche Lage. Nach Schule und Hausaufgaben ist seine Energie restlos aufgebraucht. Während wir letztes Jahr nachmittags oft noch gemeinsam etwas unternehmen konnten oder es Spielverabredungen gab, geht momentan rein gar nichts. Nicht mal rudimentäre Aufgaben im Haushalt wie dreckige Wäsche in den Wäschekorb bringen oder den Ranzen für den nächsten Tag packen. Einkaufen gehen? Völlig utopisch. Wir fahren das absolute Minimalprogramm. Nur wirklich unumgängliche Termine finden statt und selbst da wäge ich genau ab, an welchem Tag das gehen könnte.

Natürlich ist das anstrengend für alle Beteiligten. Ein ausgeglichenes Familienleben sieht irgendwie anders aus. Aber das ist nun mal so mit autistischem Kind. Wir können versuchen, gangbare Wege zu finden, wie manche Sachen vielleicht doch funktionieren. Mit Hilfsmitteln wie Kopfhörern, Sonnenbrille, Strukturierung. Aber nicht mit Zwang. Das fliegt einem dann sowieso früher oder später um die Ohren (rw), weil irgendwann die Kraft für andere Dinge nicht mehr reicht.

Jedem, der da etwas von „aushalten lernen“ oder „Desensibilisierung“ faselt, leihe ich gerne meine Migräne und enthalte ihm wirksame Schmerzmittel vor. Mal gucken, ob sie sich daran gewöhnen und irgendwann Spaß am unerträglichen Schmerz haben.

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Pubertät, Abnabelung und Pflegebedürftigkeit

Paul kommt langsam spürbar und unaufhaltsam in die Pubertät. Ich gestehe, das hat mich anfangs überrascht. Ich ging irgendwie naiv davon aus, dass uns die umfassende Entwicklungsverzögerung auch in diesem Bereich mehr Zeit verschafft. Pustekuchen.

Die Pubertät ist wohl in den meisten Familien eine Zeit voller Streit. Aus Kindern werden Teenager, die sich mit aller Macht von ihren Eltern abnabeln wollen, ähnlich wie in der Autonomiephase (Trotzphase) als Kleinkind, wenn sie plötzlich ihren eigenen Willen entdecken. Nur heftiger.

Aber wie nabelt es sich ab, wenn man gerne groß und unabhängig wäre, aber im Gegensatz zu Gleichaltrigen noch viel mehr auf seine Eltern angewiesen ist? Wie läuft es, wenn die Hormone in einem langsam erwachsen werdenden Körper verrückt spielen, die seelische Reife aber ein paar Jahre hinterher hängt? Darüber mache ich mir Gedanken.

Paul rebelliert. Er will frei und unabhängig selbst über sein Leben entscheiden und schreit uns das auch desöfteren ins Gesicht. Unglücklicherweise kann er die Folgen seiner Entscheidungen oft nicht abschätzen. Und das nicht nur bei großen Entscheidungen sondern auch im Kleinen. Er kommt gestresst von der Schule, gerät durch die Hausaufgaben und die Ansprüche, die er dabei selbst an sich stellt, in einen Overload. Ich merke das, er nicht. Mir ist klar, dass er jetzt Ruhe bräuchte, er möchte mit den Nachbarskindern spielen oder zu einem Freund gehen. Ich weiß, dass das unweigerlich schlecht enden wird, schlimmstenfalls in einem Meltdown. Ich rate ihm, sich lieber einen seiner Lieblingsfilme anzusehen, weil er dabei entspannen kann. Ich könnte genauso gut mit der Wand reden. Ruhig vorgetragene Argumente kommen schlicht nicht bei ihm an. Paul möchte rausgehen, also kämpft er darum, seine Wünsche durchzusetzen. Mir bleiben zwei Optionen. Entweder hindere ich ihn gewaltsam daran, rauszugehen oder ich lasse ihn gehen und wir baden dann spätestens am Abend die Folgen aus. Sprichwörtlich die Wahl zwischen Pest und Cholera. Jetzt kommt Gewalt aber nicht infrage, außerdem würde das sowieso nur auf dem kürzesten Weg in einen Meltdown führen. Und in einen Machtkampf, bei dem es nur Verlierer geben kann. Ich lasse ihn also gehen und wappne mich innerlich auf einen unschönen Abend. Zumindest lassen sich da dann aber die Folgen halbwegs abfedern. Den kleinen Bruder aus der Schusslinie nehmen. Paul selbst quasi mit Samthandschuhen anfassen, keine weiteren Anforderungen außer den allernötigsten zu stellen. Akzeptieren, dass er dann beispielsweise nicht mehr in der Lage ist, mit uns gemeinsam zu Abend zu essen. Auch wenn ein gemeinsames Abendessen eigentlich etwas ist, auf das wir Eltern wert legen. Ein Abendessen mit Schreierei, Tränen oder einem Meltdown (oder allem zusammen) bringt nun auch keinem von uns etwas. Mein Mann und ich nehmen das inzwischen mit Galgenhumor. Nachdem der kleine Bruder gestern vom Tisch aufgestanden war, weil er fertig gegessen hatte, saßen wir beide alleine da, grinsten uns an und machten uns drüber lustig, dass wir lange nicht mehr in Ruhe ein Essen zu zweit genießen konnten.

Richtig kompliziert wird es, wenn dann noch die Hilfsbedürftigkeit von Paul in das Szenario hineinspielt. Er braucht beispielsweise Hilfe bei der Körperpflege. Das führt dann zu skurril anmutenden Szenen. Ein Kind, was den ganzen Nachmittag ausschließlich schreiend mit mir kommuniziert hat, um jede Kleinigkeit bis aufs Messer diskutiert hat (rw) und plötzlich Hilfe beim Abtrocknen nach dem Duschen einfordert. Gerne auch weiterhin in völlig unpassendem Tonfall. Die Versuchung ist groß, ihn in diesem Augenblick erziehen zu wollen, indem ich ihn maßregele oder auf einem freundlicheren Tonfall bestehe und ihm solange die benötigte Hilfe verweigere. Aber ich bin die Erwachsene und will ich wirklich die Hilfsbedürftigkeit eines Menschen ausnutzen, um ihm meinen Willen aufzuzwingen? Paul hat sich nicht ausgesucht, pflegebedürftig zu sein. Das belastet ihn ohnehin und dürfte einer der Gründe sein, warum er deutlich heftiger rebelliert als andere Kinder. Auch ihm ist klar, dass er oft nicht so kann, wie er gerne möchte. Und auch das belastet und stresst ihn. Was wäre ich für ein Mensch, das gegen ihn zu nutzen? Würde ich selbst so behandelt werden wollen? Sicher nicht.

Das klingt jetzt sicherlich niedergeschrieben sehr reflektiert und vernünftig. Tatsächlich ist es nicht immer so eindeutig oder gar leicht. Auch ich habe schließlich Gefühle, schlechte Tage, bin müde und gereizt. Und ja, auch hier fliegen dann mal sprichwörtlich die Fetzen. Hinterher tut mir das dann immer furchtbar leid, weil es eben so rein gar nicht hilft. Im Gegenteil. Wie soll Paul lernen seine Bedürfnisse und Gefühle angemessen auszudrücken, wenn ich selbst hoch emotional und irrational reagiere? Die Verantwortung liegt bei mir, nicht bei Paul. Ich kann ihm vorleben, wie es funktionieren kann, aber ich muss auch akzeptieren, dass er manche Dinge einfach nicht kann. Weil er eben so ist wie er ist. Und weil die äußeren Umstände so sind wie sie eben sind. Viele Dinge, die zu Hause eskalieren, sind nicht durch uns verschuldet. Wir baden es halt aus, weil wir der sichere Hafen sind. Das ist manchmal ungerecht, keine Frage. Aber Paul kann da am allerwenigsten dafür. Das muss ich mir immer wieder in Erinnerung rufen. Es ist ein Lernprozess für uns alle. Nicht nur für Paul. Ich bin sehr gespannt, ob wir durch die Pubertät halbwegs unbeschadet kommen. Wir werden es versuchen. Abgerechnet wird am Schluss.

Schulwechsel. Ein neuer Anfang.

Die Sommerferien sind zu Ende. Ein neuer Lebensabschnitt steht für Paul an: Die weiterführende Schule. Diesmal fiel uns die Wahl erheblich leichter als bei der Grundschule damals. Diese Schule sollte es sein und Paul wurde auch problemlos angenomen. Seine zukünftigen Klassenkameraden und seine Klassenlehrerin lernte er noch vor den Sommerferien kennen, das beruhigte ihn schon sehr. Trotzdem stieg seine Unruhe in den letzten Ferienwochen stetig. In den letzten Tagen war er kaum noch zu ertragen und selbst auch kreuzunglücklich mit sich.

Heute war es endlich soweit. Die feierliche Aufnahme der Fünftklässler in die Gesamtschule stand an. Mit Programm und Ansprachen in einer vollgestopften Aula bei über 30 Grad Celsius Außentemperatur. Paul litt. Äußerlich merkte man nur, dass er irgendwie abwesend wirkte. Als sei er ganz woanders. Wir kennen ihn aber besser, innerlich kämpfte er sehr mit sich, um nicht aufzufallen. Endlich wurde seine Klasse aufgerufen, er stürmte förmlich nach vorne, der Schulbegleiter kam kaum hinterher. Und dann passierte etwas, worauf ich schon nicht mehr zu hoffen glaubte. Pauls Klassenlehrerin sah ihn, ging auf ihn zu und dirigierte ihn sanft an ihre Seite. Beim Aufbruch ins Klassenzimmer durch die Menschenmasse achtete sie auf ihn und lotste ihn. Paul stand die Aufregung ins Gesicht geschrieben, aber ihr vertraute er, sie gab ihm Halt. Als nach 45 Minuten die erste Unterrichtsstunde beendet war, trafen wir auf einen deutlich erleichterten Paul samt Schulbegleiter. Paul sprudelte sofort los. Er sitzt direkt gegenüber der Lehrerin, er freut sich ganz doll und fühlt sich viel besser. Ich weiß, dass Pauls ehemalige (aus der ersten Klasse) und zukünftige Sonderpädagogin da sicherlich ihre Finger im Spiel hat und ich bin zutiefst dankbar, dass Paul diesen großartigen Start haben darf. Sich direkt angenommen fühlen kann. Sicherheit bekommt. Ein wunderbarer Anfang. Ein Mutmacher.