Der defizitäre Blick

oder: Wenn normale Dinge plötzlich als krankhaft gesehen werden.

Dieses Phänomen ist mir schon öfter aufgefallen. In diesem Beitrag möchte ich nur auf die Laienebene eingehen, nicht auf das generelle gesellschaftliche Problem mit dem medizinischen Modell von Behinderung, sonst sprengt das hier jegliches Maß.

Der defizitäre Blick ordnet einfach alles, was in der Entwicklung eines autistischen Kindes passiert, sofort dem Autismus zu und damit als „abnormal“. Er tritt häufig zusammen auf mit der Einstellung „Wie kann man das behandeln?“. Ein aktuelles Beispiel: Eine Mutter erwähnte in einem Beitrag eher nebenbei, dass ihr Sohn sich in den letzten Wochen toll entwickelt hätte, er sei offener und zugänglicher geworden. Doch leider würde er seitdem etwas schlechter einschlafen und sei letzte Nacht sogar einmal aufgewacht. Das war eher als zusätzliche Information zu sehen und hatte nichts mit ihrem eigentlichen Anliegen zu tun. Ich freute mich für sie, dass ihr Sohn Fortschritte macht und lächelte in mich rein, was das Schlafen angeht. Für mich klingt etwas später einschlafen als sonst überhaupt nicht nach einem Problem. Paul hat momentan wieder eine Phase, wo er teilweise fast bis Mitternacht nicht einschlafen kann und auch wieder mehrmals pro Nacht aufwacht. Da ich aber weiß, dass es immer mal wieder solche Phasen gibt, kann ich das akzeptieren. Das ist ja nichts Schlimmes, das haben alle Kinder (nicht nur Autisten) mal mehr oder weniger ausgeprägt. Und dann kam jemand mit dem defizitären Blick in den Beitrag der anderen Mutter. Die erste Empfehlung, ohne überhaupt auf das ursprüngliche Anliegen der Schreiberin einzugehen, war sofort, sie solle doch mal Melatonin probieren. Hallo? Das Kind schläft jetzt seit 2 oder 3 Wochen nach den Ferien „etwas schlechter“ ein und ist letzte Nacht ausnahmsweise mal zwischendurch aufgewacht. Da gibt es doch überhaupt keinen Anlass über Medikamente auch nur nachzudenken! Klar können Schlafstörungen irgendwann ein echtes Problem werden, ich weiß das gut, ich habe selbst welche. Aber das in der Schilderung sind keine Schlafstörungen, das ist einfach nur vollkommen normale kindliche Entwicklung.

Ich dachte darüber nach. Und je länger ich darüber nachdachte desto mehr Situationen fielen mir ein, in denen normale Dinge und Problemchen sofort pathologisiert wurden. Sei es, dass ein Kind sehr laut spricht oder vor sich hin summt. Der Vorschlag, doch mal einen Lärmschutz für das Kind auszuprobieren, weil es ihm möglicherweise zu laut ist und es versucht, die Fremdgeräusche zu übertönen, ging völlig unter in den vielen Stimmen, die meinten, dass dies ja gar nicht ginge und dem Kind dringend abgewöhnt werden müsse.
Sei es, dass der Autist in einer Grundschulklasse so gut bzw. schlecht liest wie seine Klassenkameraden ohne Inklusionsstatus, er aber den Förderschwerpunkt „Lernbehinderung“ bekommen soll, weil er ja „sowieso schon behindert“ ist.
Sei es, dass einem Autisten im Unterricht die Hilfe des Schulbegleiters entzogen wird und sein Überforderungsverhalten trotz Erklärungen der Eltern als „autistischer Trotz und Sturheit“ fehlinterpretiert wird.
Allen Beispielen ist gemein, dass sie eine rein defizitäre Sichtweise auf das Kind haben. Und auch nur auf das Kind. Dass Verhalten häufig auch einfach als Reaktion auf unpassende Umstände entsteht passt nicht in diesen Blickwinkel. Nein, es ist das Kind, was behandelt, therapiert und optimalerweise genormt werden muss. Dabei sind dann aber auch noch die Ansprüche an den Autisten höher als an die Vergleichsgruppe, wie man in meinem Beispiel mit dem Lesen gut sehen kann. Flippt ein pubertierender Teenager aus, wird mit den Schultern gezuckt. Flippt ein pubertierender autistischer Teenager aus, muss das unbedingt behandelt werden und wird als herausforderndes Verhalten deklariert.

Ich bin selbst mal in diese Falle getappt. Kurz nach der Diagnosestellung. Ich nenne es für mich meine „Therapeutenzeit“. In diesen paar Wochen habe ich Paul irgendwie nicht mehr bewusst als das Kind wahr genommen, dass er nun mal war (und ist) sondern ihn nur noch mit dem defizitären Blick beobachtet. Ich habe jede Handlung, jedes Verhalten von ihm daraufhin analysiert, wie man es verbessern, abstellen oder behandeln könne. Eines Tages ertappte ich mich selbst dabei und habe mich wirklich gefragt, was ich da eigentlich mache. Paul kam zu mir und sagte (damals verwechselte er noch „ich“ und „du“): „Willst du Apfel?“. Statt mich darüber zu freuen, dass er offensichtlich einen Apfel essen wollte, was er bisher wegen der Konsistenz verweigerte, und ihm einen zu schneiden, korrigierte ich an seiner Aussprache herum. Da durchfuhr es mich plötzlich und ich merkte, was ich da tat und versuchte ab diesem Tag aktiv, meine Sichtweise wieder zu verändern. Das war gar nicht so einfach. Ich habe mich tatsächlich erstmal hingesetzt und eine Liste mit Pauls Stärken angelegt, um den Blick auf die Schwächen loszuwerden. Dann habe ich mich in Elternforen umgesehen, explizit nicht in den Foren speziell für Eltern behinderter Kinder sondern in ganz normalen Elternforen. Und ich stellte fest, dass viele Kinder schlecht schlafen, extrem „mäkelig“ beim Essen sind oder ihre Eltern in jedem Alter zur Verzweiflung treiben können. Das ist herrlich normal. Kinder sind eben keine Maschinen, die sich in irgendeine fiktive Norm pressen lassen. Zu lesen, dass andere Eltern auch Probleme haben, hat mir geholfen zur Normalität zurückzukehren. Paul ist ein Kind und wie jedes Kind entwickelt er sich. Entwicklung verläuft nicht unbemerkt und reibungslos. Das habe ich gemerkt, nachdem ich mir Bücher zu kindlicher Entwicklung durchgelesen habe. Paul ist Autist, ja. Er ist auch noch anderweitig eingeschränkt, ja. Aber Paul ist auch ein ganz normales Kind. Nicht alles, was so passiert, kommt vom Autismus oder von der Frühgeburt. Durch die rein defizitäre Sichtweise kann da viel Schaden entstehen, weil man Dinge behandelt, die gar nicht behandlungsbedürftig sind. Oder weil man Dinge, die eigentlich durch äußere Einflüsse entstehen, falsch interpretiert.

Liebe Eltern, liebe Lehrer und Erzieher: Setzt die defizitäre Brille ab und denkt daran, dass auch behinderte Kinder einfach Kinder sind. Nicht alles, was ihr seht, muss auch mit der Behinderung zusammen hängen.

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Es ist doch aber einfacher für das Umfeld

Sollte diese Aussage tatsächlich der einzige Maßstab sein, mit dem wir Therapieangebote bewerten? In laufenden ABA-Diskussionen wurde genau dies gesagt. „Egal, wie es für den Autisten ist, das Umfeld hat es ja leichter“. Ich meine nicht, dass dies ein legitimer Maßstab ist. Und für meine Haltung dazu gibt es mehrere Gründe.

Meiner Meinung nach sollten sich Therapieangebote und Förderungen immer daran orientieren, was dem Autisten langfristig hilft. Dazu gehören nun mal auch Dinge wie beispielsweise Stimming. Hilft es dem Autisten denn in irgendeiner Form, wenn man ihm seine Bewältigungs- und Beruhigungswerkzeuge wegnimmt? Nein, denn durch das Unterdrücken und Abtrainieren von Stimming sind die auslösenden Situationen ja nicht weniger reizüberflutend, beunruhigend oder stressig.

Die Bedürfnisse des Umfeldes (bei Kindern sind damit ja meist die Eltern gemeint) werden bei dieser Denkweise über die seelische Gesundheit und das Wohl des Autisten gestellt. Menschen und ihre Bedürfnisse sind aber gleichwertig. Und die Bedürfnisse der Kinder sind rein rechtlich schon höher gestellt als die Bedürfnisse ihrer Eltern. Eltern dürfen seit Jahren ihre Kinder auch nicht mehr schlagen, um sie dadurch zur Ruhe zu bekommen oder sie zum Gehorsam zu erziehen. Und das ist richtig so. Genauso steht im Gesetz, dass Kinder ein Recht auf Erziehung ohne seelische und psychische Erniedrigungen haben. Offenbar gilt das leider nicht, wenn „Therapie“ vorne dran steht und die Zielgruppe behinderte Kinder sind. Warum das so ist bleibt mir bisher verschlossen. Bevor ich dafür keine vernünftige Erklärung bekomme, werde ich immer weiter danach fragen.

An dieser Stelle muss ich mich gerade ziemlich zusammenreißen, damit ich einen halbwegs sachlichen Ton bewahre. Eltern tragen die Verantwortung für ihre Kinder. Was auch bedeutet, dass ich als Elter zuallererst das Wohl meines Kindes vor Augen haben sollte. Wenn ich aber solche Argumente wie „Aber für die Eltern ist es einfacher“ lese, frage ich mich wirklich, ob wir hier über erwachsene Menschen reden. Kommt mir echt nicht so vor. Überraschung: Das Leben mit Kindern ist anstrengend und laut. Das Leben mit autistischen Kindern ist ziemlich häufig noch anstrengender und lauter. Aber es sind Kinder. Die sich selbst nicht ausgesucht haben, geboren zu werden. Kinder sind niemals dafür zuständig, ihre Eltern glücklich zu machen. Kinder sind nicht dafür verantwortlich, die Ehe ihrer Eltern zusammen zu halten. Kinder sind nicht für die Karriere ihrer Eltern verantwortlich. Kinder sind auch nicht dafür verantwortlich, dass Mama irgendwann feststellt, dass sie sich das alles eigentlich ganz anders vorgestellt hat („Babys sind doch so süüüüüß“) und jetzt ihren Frust und ihre schlechte Laune am Kind ablässt. Liebe Eltern: Wenn ihr euch irgendwann mal ertappt, öffentlich Dinge zu schreiben wie „Würden wir unser Kind nicht auf Gehorsam drillen, dann wären wir schon längst geschieden“, dann sucht euch schleunigst einen guten Therapeuten. Für euch, nicht für das Kind!

Inklusion ist ebenfalls ein Argument. Inklusion bedeutet nämlich nicht „Wir lassen dich dabei sein, wenn du dich anpasst“ sondern Inklusion bedeutet, den Menschen so zu nehmen wie er ist. Nicht „Wir passen den Menschen der Umgebung an“ sondern „Wir passen die Umgebung dem Menschen an“. Wenn also jemand argumentiert „Ohne ABA wäre mein Kind nicht inkludierbar“, dann lacht ihn aus. Ist besser als denjenigen zu ohrfeigen, was mein Impuls bei solchem Bullshit ist.

Diese „besser für das Umfeld“-Argumentation hat eine lange Geschichte. Ich werfe hier mal die gute alte „Hysterie“ vor der Begriffsänderung durch Freud in den Ring. Hysterie war eine Krankheit, die Frauen diagnostiziert wurde, die (salopp gesagt) unbequem für ihr Umfeld wurden. „Behandelt“ wurden die Frauen dann unter anderem damit, dass sie verheiratet wurden. Durchaus häufig gegen ihren Willen. Damit sie wieder gefügig werden und ihr Umfeld nicht mehr so belasten. Klar, mein Beispiel ist jetzt besonders drastisch. Ich könnte aber auch das Recht auf körperliche Züchtigung des Mannes gegenüber seiner Ehefrau anführen. Das gab es, damit es für ihn bequemer und einfacher ist. Die Argumentation ist identisch mit der aktuellen, oder? Aber sollten wir gesellschaftlich nicht schon ein paar Jahrzehnte weiter sein?

Zu guter Letzt, bevor das hier wieder in einen Roman ausartet: Die Argumentation ist häufig ein Trugschluss. Was jetzt vielleicht vermeintlich leichter für das Umfeld zu sein scheint, kann in ein paar Jahren drastisch nach hinten losgehen. Und damit beziehe ich mich nicht nur auf die bekannten Spätschäden wie häufigere Depressionen, wenn Autisten zur Anpassung gezwungen werden. Ich denke da auch an Rebellion. Und noch langfristiger an das neue „Umfeld“, wenn die Eltern die Verantwortung irgendwann abgeben. Man kann niemanden mit Zwang zur Selbstständigkeit erziehen, indem man ihm erst vermittelt, dass er und seine Entscheidungen grundsätzlich falsch sind. Und sich dann wundern, dass derjenige auch später noch nur auf Anweisungen handelt, weil er den Sinn hinter seinem Tun gar nicht versteht. Die Einsicht, der Aufbau von Ritualen und Sicherheiten, die geduldigen Erklärungen mögen jetzt zwar anstrengender für das Umfeld sein, aber sie zahlen sich später aus.

Ich verrate euch sogar noch ein Geheimnis: Für mich ist es einfacher, Paul so anzunehmen wie er ist und ihm die Welt zu erklären, dass er sie versteht. Dadurch wird er nämlich sicherer und gelassener und auch ruhiger. Das wiederum kommt auch dem „Umfeld“ zu Gute.

 

Ich bin nervös. Kinderpsychiater

Am Montag hat Paul einen Ersttermin bei einem niedergelassenen Kinderpsychiater, weil uns das SPZ nicht mehr weiterhelfen kann bei den spezifischen Fragestellungen. Die Praxis hat hier in der Region einen sehr guten Ruf. Und trotzdem bin ich nervös und unruhig, wenn ich an den Termin denke. Ich weiß nicht, was auf Paul und uns zukommt und kann ihn dementsprechend auch nur schlecht vorbereiten. Wird es erstmal nur ein Gespräch? Werden schon Testungen gemacht? Muss ich Angst haben, dass die vom SPZ gestellte Autismusdiagnose vielleicht angezweifelt wird, weil Paul sich so gut entwickelt hat in den letzten Jahren? Ich mag solche Unsicherheiten so gar nicht.

Andererseits setze ich auch Hoffnungen in diesen Termin. Wenn sich herausstellt, dass Paul wirklich ein zusätzliches ADHS hat, dann können wir ihm da auch gezielt helfen. Kann man Dyspraxie testen? Und falls ja, vielleicht kann der niedergelassene Psychiater dann eine Stellungnahme für die Schule schreiben, damit der Kampf um Hilfe einfacher wird. Finden sich vielleicht Lösungsmöglichkeiten für das selbstverletzende Verhalten, auf die wir noch nicht gekommen sind?

Und so schwanke ich zwischen Zuversicht und Angst.