Liebt mich mein Kind?

Diese Frage wird gerade auf Facebook hoch und runter diskutiert. Genauer: Was kann ich als Elter als Liebesbeweis meines Kindes verlangen. Klingt seltsam, oder? Finde ich auch. Auslöser der Diskussion ist dieses unsäglich Video, was in den letzten Tagen viral ging. Was in diversen Boulevard-Blättern Schlagzeilen wie „Ihn zu umarmen ist das größte Geschenk“ machte. In diesem Video (ich verzichte bewusst auf den Link) erzählt ein Vater eines autistischen jungen Mannes über die Beziehung zu seinem Sohn. Wie furchtbar doch das Zusammenleben mit ihm war, weil er selbst- und fremdaggressiv sei. Und wie ihm geraten wurde, ihn ins Heim zu geben. Und wie er -der heldenhafte Vater- sich entschieden hat, für seinen Sohn zu kämpfen. Und wie seine Frau (nicht der Vater, nanu?) alles gelesen hat, was sie über Autismus in die Finger bekommen konnte. Und wie sich beide entschlossen, ein ABA-Zentrum einzurichten, um ihren Sohn gefügig zu machen. Verzeihung, in dem Video heißt es natürlich „ihn zu erziehen“. Sieht dann konkret so aus: Sohn ist durch ein lautes Husten seines Vaters irritiert und schlägt nach dem Vater. Man hätte dem Sohn jetzt natürlich einfach Lärmschutzkopfhörer anbieten können. Oder in ein Kissen husten, wie man es auch macht, wenn das Baby gerade neben einem eingeschlafen ist und man husten muss. Aber unsere heldenhaften Eltern machten ja ABA und so wurden ihm die Schläge als Kommunikationsmittel abtrainiert. Wie genau wird nicht erwähnt, aber wer sich lange genug mit ABA befasst hat, kann es sich sicherlich denken. Und weil man einmal dabei ist, kann man dem Sohn noch viel mehr Dinge antrainieren, ach nein „ihn erziehen“. Zum Beispiel Küsschen geben auf Kommando oder sich umarmen lassen. Toll, oder? Und dann setzt man sich vor eine Kamera und erzählt mit Tränen in den Augen, dass es ja das größte Geschenk sei, dass der Sohn sich umarmen lässt. Weil man ja endlich wisse, dass er einen auch liebt.

Ich hätte einen Aufschrei der Entrüstung erwartet. Immerhin wird in dem Video sehr deutlich gesagt, dass man den Sohn mit ABA so weit gebracht hat. Allgemein wirkt das Verhalten des Sohnes und der Umgang mit dem Vater total angespannt. Für mich sieht es so aus, als hätte der Sohn Angst etwas falsch zu machen und würde versuchen, seinem Vater jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Mich hat das sehr an einen verprügelten Hund erinnert. Inklusive der geduckten Körperhaltung.

Zu meinem Entsetzen empörte sich allerdings kaum einer. Im Gegenteil, fast alle fanden das Video total „entzückend“, „inspirierend“, „toll“ und lobten überschwänglich den Vater. Selbst Menschen, die ich bisher für gestandene ABA-Gegner hielt. Offenbar ist das „Liebe zeigen“ ein echter Trigger für viele Eltern autistischer Kinder. Es zählt scheinbar nur als Zeichen der Liebe, wenn das Kind Körperkontakt zulässt. Auch gegen seinen Willen und auch, wenn es total unangenehm ist. Ich frage mich, ob in den letzten Jahren mal jemand wirklich zugehört hat, wenn Autisten über ihre Wahrnehmung und ihre Gefühle sprachen und schrieben? Wie kommen eigentlich plötzlich alle auf das schmale Brett, dass ein „bisschen ABA“ und ein „bisschen Zwang“ zu Körperkontakt schon in Ordnung sei, wenn dadurch die Eltern sich endlich richtig geliebt fühlen können?

Wisst ihr, ich verstehe sogar sehr gut, dass es schmerzhaft ist, wenn das eigene Kind Körperkontakt, Umarmungen und Küsse drastisch ablehnt und sich sogar dagegen wehrt. Paul war und ist auch so. Ja, es tut weh als Mutter, wenn man sein Kind voller Stolz in den Arm nehmen möchte und es tritt nach einem. Wenn man es nach einem bösen Sturz tröstend in den Armen wiegen will und es läuft schreiend vor einem weg. Aber auch das ist nun mal eine mögliche Facette von Autismus. Ich als Elter habe die Wahl: Stelle ich meine Bedürfnisse über die des Kindes und trainiere ihm an, dass es Körperkontakt ertragen muss (mit all den Konsequenzen daraus), um mir die Illusion einer Zuneigungsbekundung zu errichten? Denn freiwillig wird mich mein Kind auch mit Training nicht umarmen und ein aufrichtiger Liebesbeweis sieht anders aus als eine mechanische Berührung. Oder bin ich bereit, meinem Kind die Zeit zur Entwicklung zu geben und lasse mich auf seine Art der Kommunikation ein? Ich würde wetten, dass auch Kinder, die jede Form von Körperkontakt ablehnen, ihren Eltern trotzdem zeigen, dass sie sie lieben. Bei Paul war und ist es so. Er zeigt mir seine Liebe durch sein Vertrauen zu mir (ein Vertrauen, dass ich nicht durch ABA und erzwungenen Körperkontakt missbrauchen würde), er zeigt seine Liebe, indem er darauf besteht, dass ich ihm seine Bettdecke zurecht zupfe, obwohl Papa das eben so gut kann. Er zeigt mir seine Liebe indem er mich an allen seinen Sorgen und seinen Freuden teilhaben lässt. Er bastelt für mich. Er versucht mir einen Gefallen zu tun, damit ich mich freue. All dies sind überdeutliche Zeichen seiner Liebe. Ich brauche dafür keine Umarmungen (auch wenn ich mich trotzdem darüber freue, dass es inzwischen manchmal dazu kommt). Das rührt jetzt natürlich nicht Millionen Menschen zu Tränen wie dieser Werbespot, aber ich wäre ohnehin schon damit zufrieden, wenn mein Text ein kleiner Denkanstoß wäre.

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Sozialkompetenz?

Autisten wird ja gerne nachgesagt, sie besäßen kaum oder keine Sozialkompetenz. Kostenträger sind auch sehr leicht zu überzeugen, für autistische Kinder ein Sozialkompetenztraining zu bezahlen. In Gruppen natürlich. Damit das Kind lernt, wie es sich in Gruppen angemessen verhält. Ich bin da zwiegespalten. Sowohl bei der Definition von Sozialkompetenz als auch bei der Sinnhaftigkeit eines Sozialkompetenztrainings in Gruppen. Es gibt wirklich gute und hilfreiche Angebote, aber die Qualität schwankt sehr stark je nach Anbieter. Für Paul habe ich bisher ein Gruppentraining immer abgelehnt, ich sehe ihn da einfach nicht. Was nicht bedeutet, dass wir ihn nicht trotzdem dabei unterstützen, die Fallen in sozialer Interaktion und Kommunikation zu erklären und ihm Handlungsstrategien aufzuzeigen.

Aber mal ehrlich, braucht dieses Kind wirklich ein Sozialkompetenztraining? Letzte Woche im Warteraum der Kinderklinik: Es stehen dort einige Spielgeräte für Kinder. Paul und Jonathan spielten erst für sich, dann mit einem Jungen, der vermutlich 1-2 Jahre jünger als Paul war. Sie wechselten von Spielgerät zu Spielgerät und schaukelten, wippten und spielten Piraten. Das lief ganz gut. Paul und Jonathan hatten ihren eigenen Plan, der andere Junge war halt einfach dabei. Ab und zu wechselten sie ein paar Worte. So kenne ich das auch. Während wir noch auf den Arztbericht warteten, kam ein kleines Mädchen von vielleicht 2 Jahren dazu und stieg in die Schaukelwippe, die in diesem Moment auch nicht von den Jungen genutzt wurde. Der fremde Junge stürmte sofort hin, baute sich vor dem kleinen Mädchen auf und schrie sie an. „Du darfst nicht mitspielen, hau ab! Du bist nicht mein Freund!“ Damit war Paul offenbar gar nicht einverstanden. Er stieg aus dem Schiff, ging zu der Wippe und sagte laut und bestimmt zu dem Jungen „Lass sie in Ruhe! Sie darf auch mitspielen! Das hast du nicht zu bestimmen!“ Stille im Wartezimmer. Der Junge ließ von dem Mädchen ab. Und ich platzte fast vor Stolz auf Paul.

Natürlich führt sein Gerechtigkeitssinn manchmal dazu, dass er damit gegen ungeschriebene Gesetzte seiner Peer-Group verstößt. Aber warum sollte ich ihm das Abtrainieren wollen? Ich jedenfalls habe ihn gelobt für sein Eingreifen und ihm auch bestätigt, dass das Verhalten des Jungen nicht in Ordnung war. Ich war selbst früher in der Schule die Außenseiterin. Einerseits weil ich eben eine „Streberin“ war und andererseits weil ich einfach nicht eingesehen habe, was an bestimmten Markenklamotten denn nun so erstrebenswert ist oder warum ich bestimmte Menschen blöd finden soll, nur weil andere diese Menschen blöd finden. Ich wollte aber auch gar nicht zu dieser Clique dazugehören. Hätte ich also auch ein Sozialkompetenztraining gebraucht? Und hätte das tatsächlich etwas an meiner Einstellung geändert? Ich denke nicht.

Meiner Meinung nach sollte ein Sozialkompetenztraining nicht so sehr auf die Zugehörigkeit abzielen sondern eben soziale Interaktionen erklären. Sie begreifbar machen statt richtiges Verhalten anzutrainieren.

Medikamente sind keine Bonbons

Ich grolle schon wieder innerlich. Auch schon seit längerer Zeit beobachte ich in einigen Foren und Gruppen den Trend, dass beim kleinsten Problemchen der Eltern mit ihren autistischen Kindern sofort Medikamente empfohlen werden. Nein, nicht für die Eltern (was ja manchmal durchaus Sinn machen würde) sondern für das Kind. Und auch keine harmlosen Traubenzuckerchen sondern Psychopharmaka wie Risperidon*. Die Dinger, für die es ein Betäubungsmittelrezept braucht. Für Kinder. Teilweise sogar Kleinkinder. Nicht etwa von Ärzten oder Psychiatern, nein, diese Empfehlung kommt von anderen Eltern. Klingt schlimm? Finde ich auch. Das liest sich dann so:

A: „Mein Kind arbeitet in der Schule nicht mit.“
B: „Habt ihr keine Medikamente? Lass ihm die verschreiben!“

H: „Mich nervt manchmal, dass mein Kind am Nachmittag so laut ist.“
I: „Mein Kind nimmt seit xy Jahren Risperidon, weil es auch immer lebhaft war.“

M: „Am Wochenende ist meine Tochter immer so früh wach und den ganzen Tag total aufgedreht.“
N: „Seit mein Kind Psychopharmaka bekommt, schläft es länger und ist nicht mehr so flippig und unruhig.“

Diese Beispieldialoge sind nicht oder kaum verkürzt. Fällt euch was auf? Genau: Kein Wort zur Ursachenforschung. Kein Wort darüber, ob man denn etwas an den Hilfen oder Umständen ändern könnte. Kein Wort dazu, dass manche Dinge eben bei vielen autistischen Kindern einfach so sind. Mal ehrlich, wenn ich Paul in eine verpflichtende Ganztagsschule bis 16 Uhr schicken würde, dann wäre er am Nachmittag auch zu nichts mehr zu gebrauchen und würde vermutlich täglich erstmal einen ausgewachsenen Meltdown kriegen. Unter anderem auch deswegen haben wir uns gegen die Förderschule entschieden, weil es dort nur Ganztag gibt. Soviel zum Thema individuelles Eingehen auf jedes Kind, aber das ist ein eigenes Thema wert.
Wenn Paul am Wochenende flippig und unruhig ist, dann weiß ich, dass er wieder eine klarere Strukturierung braucht und richte mich danach. Banale Sachen eigentlich. Auf solche Dinge muss man als Elternteil aber auch erstmal kommen. Genau deswegen fragen ja Eltern auch in Gruppen und Foren um Rat zu solchen Problemen und Problemchen. Wenn dann aber sofort Psychopharmaka empfohlen werden, dann stehen mir einfach die Haare zu Berge.

Versteht mich bitte nicht falsch, ich bin nicht grundsätzlich gegen die Gabe von Risperidon und Co. Ich sehe diese Mittel allerdings als Ultima Ratio, als allerletzten Lösungsweg, wenn gar nichts anderes mehr hilft und wirklich Not am Mann ist. Keinesfalls sind diese Psychopharmaka bei Kindern zur Dauerbehandlung gedacht. Sie können langfristige und bleibende Nebenwirkungen auslösen. Die Verordnung und Dosierung gehört immer in die Hände eines guten Kinderpsychiaters, der optimalerweise das Kind auch schon länger kennt und auch sinnvoll abschätzen kann, ob nicht erstmal andere Strategien versucht werden sollten.

Auf keinen Fall sollten sich also medizinisch völlig unbedarfte Mütter berufen fühlen, anderen Eltern dazu zu raten. Ich weiß nicht, was sich manche dabei denken. Das Kind einer anderen Familie ist doch kein Versuchskaninchen. Auch wenn man im Internet anonym oder teilweise anonym bleibt, hinter jeder Frage in einem Forum sitzt doch ein verunsicherter Mensch, der teilweise wirklich verzweifelt nach Hilfe und Rat sucht. Dem kann man doch nicht einfach erzählen, er müsse seiner dreijährigen Tochter „einfach nur“ Risperidon geben und dann sei alles gut?

Ich kann solche Empfehlungen auch nicht mit „Ach, er/sie weiß es nicht besser.“ entschuldigen. Weil ich der Meinung bin, dass man als Elter sehr genau wissen sollte, was das Medikament bewirkt, was ich meinem Kind da täglich verabreiche, welche Nebenwirkungen es hat und warum es genau verordnet wurde.

Ich wäre sehr dafür, dass in den Gruppen und Foren zum Thema Autismus eine neue Regel eingeführt wird, die die Empfehlung von Medikamenten generell verbietet. Was sonst teilweise an Unheil angerichtet werden kann, macht mir echt Bedenken.

 

 

 

*In diesem Post klammere ich ADHS-Medikamente explizit aus, weil es sich dabei um eine andere Wirkungsweise, eine andere Indikation und eine andere Substanzengruppe handelt. Ich beziehe mich ausdrücklich auf Neuroleptika und andere dämpfende Medikamente.