„Deine Sorgen hätte ich gern“ – Eltern unter sich

Heute Morgen gab es eine Situation, die mich nachdenklich gemacht hat. Deshalb versuche ich meine Gedanken in diesem Blogpost zu verarbeiten. Eine Mutter fragte auf Twitter „Wie haltet ihr es eigentlich aus, dass eure Kinder groß werden und nicht mehr mit euch kuscheln wollen?“ Ich antwortete „Als Mutter eines Kindes, was quasi von Geburt an Nichtkuschler ist: Liebe drückt sich nicht in Körperkontakt aus. Ihr werdet Nähe auf andere Art erleben.“ Und das war absolut tröstend gemeint. Die Twitteruserin bekam aber offenbar ein schlechtes Gewissen wegen meiner Antwort. Sie schrieb mich per Nachricht an und entschuldigte sich fast, diese Frage gestellt zu haben. Sie hatte Angst, dass ich wegen ihrem Tweet und ihren Sorgen ein schlechtes Gefühl bekäme. Weil unser Leben ja ganz anders ist. Das macht aber gar nichts. Unser Leben ist gut so wie es ist.

Vor ein paar Jahren war es aber tatsächlich so, dass ich mit den Alltagssorgen anderer Eltern wenig anfangen konnte. Sie sogar belächelt habe. Heimlich gedacht habe „Wie kann man aus so einer Kleinigkeit nur ein Problem machen?“. Inzwischen schäme ich mich dafür. Ich habe nicht das Recht, Sorgen und Probleme anderer Menschen abzuwerten, nur weil ich mich mit ganz anderen Problemen herumschlagen muss. Mir um andere Dinge Sorgen mache. Ich habe einfach nur eine ganz andere Perspektive. Aus dieser Perspektive heraus kommen mir natürlich manche Sachen schrecklich banal vor, die für andere einen fast unüberwindlichen Berg darstellen. Paul ist in der vierten Klasse. Unter den Eltern seiner Mitschüler geht die Angst vor der Schulempfehlung um. Obwohl sie in unserem Bundesland nicht bindend ist. Mir ist völlig egal, welche Schulempfehlung Paul bekommt. Ich wähle ohnehin die Kooperative Gesamtschule hier im Ort. Allerdings bin ich noch nicht sicher, auf welchem Zweig ich ihn anmelde. Das ist aber in unserem Fall nicht von den Zensuren abhängig, sondern von den Bedingungen für Inklusion und Förderung. Sind meine Sorgen jetzt deswegen mehr oder weniger „wert“ als die Sorgen der Eltern von Pauls Mitschülern? Oder ist es nicht viel eher völlig egal und alle diese Sorgen haben ihre Berechtigung? Ich kann mir gut vorstellen, dass Eltern eines lebensverkürzend erkrankten Kindes über uns alle die Köpfe schütteln und heimlich denken „Ich wünschte, ich müsste mich mit der Wahl der zukünftigen Schulform befassen und nicht mit der Frage, ob mein Kind den nächsten Sommer überhaupt noch erlebt!“ Merkt ihr, worauf ich hinaus will?

Ich bin ehrlich, an diesen Punkt zu kommen war nicht einfach. Es ist ein Prozess, der meiner Meinung nach zur Verarbeitung der Diagnose einer Behinderung gehört. Eine Art von Trauer. Ich habe sehr lange Elternforen und Blogs anderer Eltern gemieden. Weil ich es nicht ertragen konnte, wie anders (und in meinen Augen leichter) die Entwicklung ihrer Kinder verlief. Mir wurde jedesmal schmerzhaft vor Augen geführt, dass bei uns eben doch nicht alles „normal“ ist. Dass wir irgendwie eben doch Außenseiter sind. Die Realität der Eltern nichtautistischer Kinder war teilweise kilometerweit weg von meiner Realität. Ich wollte nicht ständig daran erinnert werden, was wir alles nicht machen können. Was Paul alles nicht kann. Das habe ich im Alltag schon oft genug gemerkt, das musste ich nicht auch noch explizit nachlesen. Und ja, ich habe manchmal auch gelästert. Das tut mir inzwischen leid. Es ist nicht fair, Probleme gegeneinander aufzurechnen. Viel sinnvoller ist es doch, in den offenen Austausch zu gehen. Aus dem alle profitieren können. Denn ich habe schon so manchen Denkanstoß von anderen Eltern bekommen. Es ist auch tröstlich zu wissen, dass es nirgendwo die klassische „Rama-Familie“ aus der Werbung gibt, dass es in jeder Familie mal hakt und mal knallt. Sie streiten vielleicht über andere Dinge mit ihren 10jährigen Kindern als wir, aber sie streiten eben auch. Und da macht es keinen großen Unterschied, worüber. Kinder sind eben auch einfach Kinder. Und Abnabelung und Reibung an den Eltern gehört auch bei unseren autistischen Kindern zum Erwachsenwerden dazu. Manchmal früher und manchmal später.

Dieser Beitrag soll auch ein Plädoyer sein. Für mehr Offenheit, mehr Toleranz und ein besseres Miteinander. Ich finde es schade, wenn sich Eltern untereinander zerfleischen. Völlig unabhängig davon, ob wir nun behinderte Kinder haben oder nicht. Wollen wir nicht alle das Beste für unsere Kinder? Sollten wir ihnen dann nicht vorleben, dass andere Lebensentwürfe nicht immer schlechter sein müssen? Dass zuhören sinnvoller ist als (ver)urteilen? Ich denke schon. Was natürlich nicht bedeutet, dass nicht auch Toleranz und Offenheit ihre Grenzen haben sollten. Bei Kindesmisshandlung oder schädlichen Therapieformen hört auch meine Toleranz schlagartig auf. Aber das ist ein anderes Thema. Lasst es uns miteinander versuchen. Voneinander lernen. Gemeinsam trägt sich vieles leichter.

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Nicht die Behinderung belastet mich…

sondern das ganze Drumherum. Paul ist behindert. Laut Definition sogar mehrfachbehindert. Dafür gibt es regelmäßig ungewolltes Mitleid von Außenstehenden. Dabei ist gar nicht Paul das Problem. Klar beeinflussen Autismus und Co. unser Familienleben. Aber das, was mich wirklich schlaucht und so unendlich nervt, ist der endlose Papierkrieg.

Von wegen „Sobald die Diagnose steht, gibt es Hilfe“. Ich lache mal bitter. Nichts gibt es. Zumindest nicht, wenn man sich nicht dem bürokratischen Irrsinn stellt. Los geht es mit der Beantragung einer Pflegestufe bzw. inzwischen heißt es ja Pflegegrad (was übrigens auch ohne Diagnose schon geht und wozu ich den Eltern prinzipiell raten möchte). Die Pflegestufe ist im Vergleich zu fast allen anderen Dingen dann tatsächlich auch sowas wie „Bürokratie für Einsteiger“. Zum warm machen. Der Antrag kann formlos bei der Krankenkasse eingereicht werden. Dann findet eine Begutachtung vom medizinischen Dienst der Krankenkassen (kurz MDK) zu Hause statt. Und wenn man Glück hat, klappt es gleich auf Anhieb mit einer halbwegs gerechten Einstufung. Wenn man Pech hat, geht da der Wahnsinn schon los. Widerspruch einlegen, Begründung schreiben, neuer Begutachtungstermin und eventuell klagen. Dieses Prozedere wiederholt sich bei jedem einzelnen Hilfsmittel, was man beantragen möchte. Mit ganz viel Glück wird zwischendurch mal eine Entscheidung nach Aktenlage getroffen.

Weiter geht es mit dem Schwerbehindertenausweis samt Merkzeichen. Wenn mal wieder jemand kommt und „Ach, den kriegt man doch schon für jedes kleine Wehwehchen“ sagt, dann könnte es sein, dass ich einen Mord begehe. Paul hat auch im Widerspruchsverfahren und bei erneuter Prüfung nur einen Grad der Behinderung von 50 zuerkannt bekommen und das Merkzeichen H. Kein B kein G. Obwohl das Merkzeichen H (hilflos) eigentlich das B (Begleitung) bedingt, wehrt sich unser zuständiges Versorgungsamt mit aller Kraft dagegen. Da es tatsächlich für uns im Alltag keinen allzu großen Unterschied macht, ob dieses B nun da steht oder nicht, haben wir auf eine Klage bisher immer verzichtet. Ich brauche meine Kraft anderweitig. Wer allerdings kein Auto hat und auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, für den ist der zähneknirschende Verzicht keine Option.

Mein persönlicher Endgegner beim Antragsmarathon ist allerdings die Eingliederungshilfe. Für Paul ist wegen der Mehrfachbehinderung das Sozialamt zuständig, zumindest das Zuständigkeitsgerangel der Ämter, das mitunter Monate kostet, blieb uns erspart. Paul bekommt Autismustherapie und Schulbegleitung über die Eingliederungshilfe finanziert. Jetzt stellt man da nicht etwa einen bzw. zwei (für jede Maßnahme am besten separat) Anträge und bei Bewilligung ist dann lange Zeit Ruhe. Nein, ganz falsch gedacht. Selbst wenn das zuständige Amt auf schikanöse Maßnahmen wie andauerndes Einfordern (fach)ärztlicher Atteste, die nicht älter als 3 Monate sein dürfen, oder regelmäßige neue ausführliche Diagnostiken verzichtet, muss man sich quasi ständig für die Hilfe rechtfertigen. Dies erfolgt durch Hilfeplangespräche und aktuelle Stellungnahmen von Lehrern, Schule, Schulbegleiter und Therapeuten. Teilweise finden Hilfeplangespräche in vierteljährlichem Abstand statt, da geht es uns mit halbjährlichem Abstand fast noch gut. Ein Hilfeplangespräch alleine bedingt aber noch keine Weiterbewilligung der laufenden Hilfen. Deshalb bin ich dazu übergegangen, immer fristgerecht die Anträge auf Weiterbewilligung für das nächste Halbjahr (Autismustherapie) bzw. das nächste Schuljahr (Schulbegleitung) schriftlich per Einschreiben mit Rückschein zu versenden. Fristgerecht bedeutet 3 Monate vor Ablauf. Diese 3 Monate kann sich das Amt nämlich maximal Zeit lassen für einen Bescheid. Es gibt Ämter, die diesen Spielraum komplett ausnutzen, was dazu führt, dass manche Kinder von den Sommerferien bis zu den Herbstferien regelmäßig ohne Schulbegleitung da stehen, obwohl klar ist, dass sie ohne diese Hilfe nicht vernünftig beschult werden können. Um uns das zu ersparen, schreibe ich die Anträge schon im April. Damit es im August dann hoffentlich reibungslos für Paul weitergehen kann.

Auch das ist aber noch nicht alles. Zwischendurch kommen dann noch kleinere Anträge wie Behindertenfahrdienst oder Nachteilsausgleiche. Obwohl, was bedeutet „kleinere“ in diesem Zusammenhang. Der Fahrdienst wurde erst nach einer sehr deutlichen Stellungnahme des Amtsarztes bewilligt. Dafür ging auch ein Schultag verloren, weil die Begutachtung durch das Amt angeordnet wurde. Und über die Nachteilsausgleiche und unseren Kampf mit der Schule könnte ich ganze Bücher schreiben. Deswegen gehe ich hier nicht näher darauf ein, das wird mal wieder ein gesonderter Beitrag.

Im letzten Jahr haben wir dann noch mit der Pflegekasse gekämpft, weil sie unbedingt (und entgegen der Gesetzeslage) neu begutachten wollten, ob die Pflegestufe noch angemessen ist. Da die Begutachtung des MDK zu unseren Gunsten ausfiel, haben wir gegen die regelwidrige Begutachtung keine drastischeren Schritte unternommen. Aber auch so kostete uns das viel Zeit und Nerven, mehrere Telefonate und diverse Briefe.
Das Versorgungsamt führte eine Nachprüfung durch, es hätte ja sein können, dass Paul eine spontane Wunderheilung erlebt hat und auch nicht mehr autistisch ist. Dies zog sich trotz umfassender Mitarbeit unsererseits ebenfalls über 5 Monate hin.
Seit Januar versuchen wir jetzt eine Dauerverordnung für Ergotherapie zu bekommen. Es gibt bei bestimmten Behinderungen (Autismus gehört dazu, genau wie die Extremfrühgeburt) ein vereinfachtes Bewilligungsverfahren. Vereinfacht. Haha. Wir schrieben einen formlosen Antrag. Die Kasse forderte eine Stellungnahme der Kinderärztin. Die wiederum ist der Meinung, wir sollten uns doch endlich mal mit Pauls Behinderung arrangieren und akzeptieren, dass er nicht alles kann. Sie gab uns nur eine Kopie der letzten Ergoverordnung mit. Wir brauchen aber eine medizinische Begründung, warum Ergotherapie sinnvoll ist. Wir schicken jetzt erstmal die Verordnung. Und vermutlich werden wir nach der Ablehnung dann ins SPZ müssen, damit wir dort die entsprechende ärztliche Stellungnahme für die Krankenkasse bekommen.

Und all das läuft neben dem ganz normalen familiären Alltag. Neben den wöchentlichen Therapieterminen. Zusätzlich zu allem anderem. Und das raubt Kraft und Zeit. Dinge, die an anderen Stellen viel sinnvoller eingesetzt werden könnten.

alltägliche Absonderlichkeiten

Nächste Woche fängt bei uns die Schule wieder an. Wir wissen, dass an einem oder zwei Tagen pro Woche der Unterricht bereits zur nullten Stunde beginnt. (Nullte Stunde? Ernsthaft, wer denkt sich denn so etwas aus? Was war denn an der früheren sechsten Stunde falsch? Welches Kind ist um diese Uhrzeit eigentlich schon aufnahmefähig?) Wir haben aber natürlich noch keinen Stundenplan. Den gibt es erst in der zweiten Schulwoche endgültig. Hoffentlich. Im April baten einige Eltern inklusive mir bereits darum, ob nicht zumindest die Wochentage mit der nullten Stunde vorab bekannt gegeben werden könnten. Weil die Fahrkinder zweier Orte durch diese wunderliche Anfangszeit in große Schwierigkeiten kommen. Ich fragte, weil ich für Paul die Weiterbewilligung des Behindertenfahrdienstes beantragen musste. Die Schule zuckte mit den Achseln. Man wisse es noch nicht, die Stundenpläne seien abzuwarten. Jetzt kam, was irgendwie ja kommen musste. So ganz grundsätzlich wäre Fahrdienst für Paul zwar schon möglich, der Antrag kann aber erst bearbeitet werden, wenn ich für jeden einzelnen Wochentag die genauen Zeiten angeben kann. Und ob zur nullten Stunde überhaupt der Fahrdienst bewilligt wird, müsse man noch sehen. Weil das ja vermutlich grundsätzlich eine Einzelfahrt wäre. Man müsse doch die Kosten im Auge behalten. Und so sitzen wir hier, eine Woche vor Schuljahresbeginn. Ich kann Paul nicht sagen, wann er jeden Morgen aufstehen muss. Ich kann ihm nicht sagen, ob er mit dem Taxi fährt, wir ihn mit dem Auto bringen oder er spontan das Busfahren erlernen muss. Seufz.