Immer wieder Ausgrenzung

Es ist bekannt, dass ich mich für Inklusion einsetze. Dass es sowohl in unserem Alltag als auch generell immer wieder zu Ausgrenzungen und Diskriminierungen seitens Nichtbehinderter kommt, ist auch nicht neu und wird wohl leider auch immer wieder Thema sein.

Heute geht es mir allerdings um eine andere Form der Ausgrenzung: Die bewusste Abgrenzung der unterschiedlichen Autismusformen untereinander. Dazu gab es auf Twitter heute einen passenden Tweet:

Genau das dort kritisierte ist mir in den letzten Tagen ebenfalls mal wieder sehr sauer aufgestoßen. Besonders weil dabei auch noch Formulierungen genutzt wurden wie „Asperger ist ja nur leichter Autismus“ und (noch schlimmer) „Wer unter seinem Asperger leidet, der dramatisiert nur“. Solche Aussagen führen die mühevolle Aufklärungsarbeit vieler engagierter Menschen ad absurdum. Ich frage mich wirklich, warum ich mir die Mühe mache und lange Texte darüber verfasse, dass Autismus ein weitgefächertes Spektrum ist und bei jedem Autisten die Probleme individuell ausgeprägt sind. Und zwar nicht statisch sondern von vielen Faktoren abhängig. Zu diesen Faktoren zählen unter anderem wie gut das Umfeld den Bedürfnissen des jeweiligen Autisten angepasst ist, ob er die Hilfen bekommt, die er braucht (wenn er sie braucht) und wie hoch die Belastungen gerade sind. Manche Dinge sind vom Autisten selbst zu beeinflussen („Schaue ich mir tatsächlich die laute Monstertruck-Show live an und stehe inmitten vieler anderer Menschen?“), andere sind es nicht („Warum schreien denn heute alle Mitschüler so laut rum und laufen ständig durcheinander? Können die nicht damit aufhören?“). Je nachdem wirkt sich auch der Autismus mehr oder weniger direkt aus. An manchen Tagen gerät Paul schon in der Schule in einen heftigen Overload und wir sind den Rest des Tages nur noch damit beschäftigt, die Folgen davon abzumildern und aufzufangen. An anderen Tagen kommt er entspannt aus der Schule und wir können noch etwas gemeinsam unternehmen. Aber auch an diesen entspannten Tagen ist Paul natürlich weiterhin Autist. Leidet er darunter? Das ist auch nicht pauschal zu beantworten. An manchen Tagen ja, an anderen Tagen nicht.

Leider wird Autismus im normalen Umfeld immer nur nach dem beurteilt, was nach außen sichtbar ist. Es gibt Menschen, die mir schon ins Gesicht gesagt haben, dass Paul ja nur schlecht erzogen sei oder ein bisschen schüchtern. Weil man ihm „das ja nicht ansieht“. Es klassischer Fall von „leichtem Autismus?“ Da ich darüber schon ausführlich schrieb, verweise ich hier einfach darauf.

Diesmal geht es allerdings um Autisten, die darauf bestehen, sich von den „Kanner-Autisten“ wie Paul abzugrenzen. Abzugrenzen in dem Sinn, dass sie ja „besser“ seien, „intelligenter“ und „weniger beeinträchtigt“. Das verletzt mich als Mutter und ist auch auf der sachlichen Ebene falsch. Weder sind diejenigen, die als „Asperger“ diagnostiziert wurden, per se intelligenter als andere Autisten, noch bedeutet das automatisch, dass sie keine Hilfe brauchen oder „dramatisieren“, wenn sie über ihre Probleme berichten. Tatsächlich zählt in der diagnostischen Abgrenzung zwischen „Kanner“ und „Asperger“ nur wann die ersten Auffälligkeiten bemerkt wurden (Vor oder nach dem 3. Lebensjahr) und ob eine verzögerte Sprachentwicklung vorliegt. Da auch die Wissenschaft inzwischen gemerkt hat, dass es selten so eindeutig ist und man spätestens im Erwachsenenalter oft nicht mehr zwischen Kanner-Autismus/HFA und Asperger-Syndrom unterscheiden kann, wurde diese Trennung abgeschafft. Zukünftig wird dann nur noch ASS (Autismus-Spektrum-Störung) diagnostiziert. Und auch was die Intelligenz angeht, weiß man inzwischen, dass Autisten zwar eine zusätzliche geistige Behinderung haben können, aber Kanner-Autisten tatsächlich jahrzehntelang systematisch unterschätzt wurden bzw. mit ungeeigneten Werkzeugen getestet wurden (und leider oft auch noch werden).

Wer mein Blog schon länger verfolgt, weiß, dass ich mich dafür einsetze, dass jeder Autist unabhängig von der diagnostischen Schublade die Hilfen bekommt, die er benötigt. Ich differenziere schon lange nicht mehr zwischen frühkindlichem Autismus und dem Asperger-Syndrom. Deswegen trifft es mich dann hart, wenn Autisten wie Paul entwertet und herabgesetzt werden, weil sie ja „Kanner“ sind. Zusätzlich spielen solche Aussagen auch noch denjenigen in die Hände, die argumentieren, dass Autisten ohne Leidensdruck zukünftig keine Diagnose mehr gestellt bekommen sollen und erst recht keinen Anspruch auf Hilfen haben sollen. Das kann doch wirklich niemand für wünschenswert halten. Denn auch der Autist, der zum jetzigen Zeitpunkt keine Hilfe benötigt, kann durch Umstände, die nicht seinem Einfluss unterliegen plötzlich in einer Lage stecken, in der er sich plötzlich doch eingeschränkt fühlt und auf Untersützung angewiesen wäre.

 

 


Edit 08.07.2016 19.15 Uhr Da es offenbar auch an anderen Stellen im Internet gerade brodelt und ich Missverständnisse vermeiden möchte: Mir geht es nicht darum, dass ich Autisten vorschreiben möchte, ob sie sich selbst als „Asperger-Autist“ oder nur „Autist“ oder „von Autismus-Spektrum-(Störung) Betroffene(r)“ oder anders bezeichnen. Mir geht es nur darum, doch bitte nicht Asperger über Kanner zu erheben und als „leichter“ oder „besser“ darzustellen. Ich hoffe, das konnte ich deutlich machen.


Edit 14.07.2016 13.00 Uhr Nein, mein Beitrag bezieht sich nicht auf einen Post eines anderen Bloggers sondern auf eine Facebookdiskussion auf einem privaten Profil eines Bekannten. Den Post des Bloggers kannte ich bei der Erstellung meines Beitrages noch nicht mal. Umso erstaunter bin ich über die Reaktionen, die mein Beitrag offenbar ausgelöst hat.

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