Warum ich meinen Europaabgeordneten bat, die Autismus-Deklaration NICHT zu unterschreiben

Einige haben es bestimmt mitbekommen. Durch Foren und Facebookgruppen ging der Aufruf, die jeweiligen Europaabgeordneten zu bitten die Autismus-Deklaration des Europaparlamentes zu unterschreiben. Auch Autismus Deutschland e.V. rief auf der Webseite dazu auf, doch zu unterschreiben und die Europaabgeordneten zu informieren. Ich halte das für falsch. Es geht nämlich bei dieser Deklaration mitnichten darum, einfach ein Bewusstsein für Autismus zu schaffen, wie ich es fälschlicherweise als Erklärung in einem Forum las. Es geht um die systematische Erfassung aller Autisten in Europa und die Durchsetzung einheitlicher Standards für Diagnose und Therapie. Und ganz nebenbei auch noch um die Förderung der Forschung zur Früherkennung.

Mir stellen sich ja schon bei der europaweiten systematischen Erfassung sämtliche Nackenhaare auf und ich assoziiere das mit der deutschen Geschichte, wo solche Erfassungslisten nie zum Guten genutzt wurden.
Aber es geht ja noch weiter. Gleich in Punkt 2 steht, dass es zwar keine Heilung gibt, aber es „wissenschaftlich anerkannte“ frühe und intensive Interventionen gibt, die helfen, die Symptome von Autismus zu überwinden und ein späteres selbständigeres Leben zu ermöglichen. Die Formulierung mit dem „wissenschaftlich anerkannt“ und „frühe und intensive Interventionen“ lassen nur einen möglichen Schluss zu: Hier soll einzig und allein ABA als Therapieform anerkannt und promotet werden. In Punkt 3 wird die Wichtigkeit früher Diagnosen hervorgehoben, um noch früher eingreifen zu können.

Ich übersetze einfach mal den Wortlaut, damit sich auch diejenigen ohne ausreichende Englischkenntnisse ein Bild machen können:

1. Autismus ist eine lebenslange Gehirnstörung, die während der frühen Kindheit eintritt und ungefähr 1% der Bevölkerung betrifft. Die Ausprägung reicht von milden bis schweren Behinderungen in den Fähigkeiten zum Verstehen täglicher Abläufe, Kommunikation und sozialer Interaktion. Die Ursachen des Autismus werden derzeit noch untersucht.

2. Es gibt derzeit kein Heilmittel für Autismus, aber es hat sich gezeigt, dass frühzeitige und intensive Interventionen helfen können, die Symptome zu überwinden oder abzumildern und den Grad der späteren Unabhängigkeit zu erhöhen.

3. Trotz der Wichtigkeit der frühen Diagnose, um die entsprechende Unterstützung und Ausbildung zur Verfügung zu stellen, fehlt die Früherkennung in Europa.

4. Die Kommission und der Rat werden ersucht, die akkurate Früherkennung und Diagnose von Kindern und Erwachsenen mit Autismus zu unterstützen.

5. Die Kommission und der Rat werden auch ersucht, sich einen strategischen und ganzheitlichen Ansatz anzunehmen, um auf die Herausforderungen zu antworten, denen Menschen mit Autismus in ihrem Leben ausgesetzt sind.
Eine europäische Strategie sollte darauf abzielen, Forschung über Autismus sowie Prävalenzstudien zu fördern und Austausch über die besten evidenz-basierten Methoden des Eingreifens bei Kindern mit Autismus sowie Unterstützung und Wohnmöglichkeiten für Erwachsene zu fördern.

6. Diese Deklaration wird zusammen mit den Namen der Unterzeichner zum Rat und der Kommission geschickt.

Quelle: http://www.autismeurope.org/files/files/written-declaration-on-autism-to-the-ep.pdf

Leider ist es jetzt schon zu spät, noch etwas im Vorfeld unternehmen zu können. Die Zeichnungsfrist endete am 27.07. Es haben 419 von 751 Mitgliedern unterzeichnet, damit kam die erforderliche einfache Mehrheit zusammen. Die Deklaration wird an die einzelnen EU-Institutionen weitergeleitet zur Umsetzung. Jetzt müssen wir der Dinge harren, die da kommen.

Werbung

Ein klares Zeichen

setzte heute der Verein „Autismus Mittelfranken e.V.“ mit einer Stellungnahme gegen ABA. Als Regionalverband von „Autismus Deutschland e.V.“ ein mutiger Schritt. Und hoffentlich erst der Anfang eines Weges, an dessen Ende ein selbstverständlicher Dialog auf Augenhöhe zwischen Angehörigen, Fachpersonal und Autisten und ein Ende schädlicher Therapieangebote stehen sollte.

Stellungnahme von „Autismus Mittelfranken e.V.“

Ich ziehe meinen Hut. Danke für diese Aussage.

Wir sind Autismus


Wir sind Autismus-Banner

Am Wochenende fand in Dresden die 14. Bundestagung von „Autismus Deutschland e.V.“ (ehemals „Hilfe für das autistische Kind“) statt. Im Vorfeld hatte ich überlegt dort teilzunehmen, immerhin bin ich Mitglied in einem Regionalverband von „Autismus Deutschland e.V.“ Und wir sind bequeme Mitglieder, da wir mit den Menschen aus dem Regionalverband und ihrer Sicht auf Autismus überhaupt nicht übereinstimmen, nutzen wir auch die dortigen Angebote nicht. Ich hatte mal in einem Kommentar kurz geschildert, was mich so gestört hat: Bisher dachte ich allerdings, dass diese Leidmentalität (so nenne ich es für mich) eher die Ausnahme als die Regel ist. Anscheinend habe ich mich geirrt.

Mit Interesse verfolgte ich die Tweets direkt von der Bundestagung. Mein Interesse schlug allerdings ziemlich bald in ungläubiges Staunen und blankes Entsetzen um. Auf dem Blog Quergedachtes kann man die Zusammenfassungen einiger Vorträge nachlesen.

Es wird unter anderem behauptet, dass Asperger-Autisten ja quasi keine „echten“ Autisten wären, da sie ja kommunizieren können. Und Autismus in vielen Fällen ohnehin nur eine Modediagnose sei. Und sowieso eine Autismusdiagnose nur dann valide sei, wenn sie zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr gestellt werde. Nein, ich denke mir das nicht aus. Und nein, das sind nicht etwa Meinungen von unwissenden Besuchern der Veranstaltung. Diese Aussagen stammen alle von Rednern, Fachleuten, die von „Autismus Deutschland e.V.“ eingeladen wurden bzw. die sogar Funktionen im Bundesverband ausüben. Ich komme mir gerade vor wie auf einer Zeitreise in die 1950er Jahre des letzten Jahrtausends.

Ich gehöre übrigens genau zur Zielgruppe von „Autismus Deutschland e.V.“. Versteht es sich doch als Selbsthilfeorganisation für die Angehörigen von Autisten. Den Vorträgen folgend wohl hauptsächlich um die Eltern von „Kanner“-Autisten. So wie Paul also. Der bei der Diagnose 4 Jahre alt war. Mensch, da haben wir ja wohl noch mal Glück gehabt.

Es war nicht „Autismus Deutschland e.V.“, der mir nach der Diagnose aufzeigte, was ich nun damit anfangen kann. Es war nicht „Autismus Deutschland e.V.“, der mir Wege aufzeigte, mein Kind zu erreichen. Es war auch nicht „Autismus Deutschland e.V.“, der mir erklären konnte, wie Paul die Welt sieht.
Nein, es waren die erwachsenen Autisten, die mir durch ihre Blogs, Foren, Bücher und Facebookgruppen unschätzbare Hilfen gaben. Diese erwachsenen Autisten, denen „Autismus Deutschland e.V.“ jetzt nicht mal zuhören will, vor deren Blogs sogar gewarnt wird, weil sie Falschinformationen verbreiten würden. Wtf? Ohne diese vielen Erklärungen und Hilfestellungen wäre Paul wohl nicht da, wo er heute ist. Die Erfahrungsberichte sind unschätzbar wertvoll für mich.

Nein, „Autismus Deutschland e.V.“, die Falschinformationen verbreitet ihr! „Autisten sind nicht in der Lage, eine Reise zu planen?“ Das ist ein schlechter Witz. Willkommen in der Wirklichkeit. An eurer Stelle, „Autismus Deutschland e.V.“ würde ich ganz schnell den Dialog suchen und lernen. Damit nicht noch mehr eurer Mitglieder feststellen, dass ihr nicht wisst, wovon ihr redet.

Mehr zur Aktion „Wir sind Autismus“ und jede Menge weitere Blogbeiträge dazu findet ihr unter:
http://blog.realitaetsfilter.com/wir-sind-autismus/