Mein Aufreger des Tages – Autismusdiät

Ja, mal wieder das leidige Thema gfcf-Diät bei Autismus. Ich habe ja hier schon meine Argumente dagegen lang und breit niedergeschrieben.

Heute muss ich mich aber mal so richtig aufregen. Mich interessiert ja auch immer, wie Eltern denn zu dieser Form von „Intervention“ überhaupt kommen. Diesmal traf es mich allerdings ziemlich unvorbereitet. In einem großen Forum äußerte eine Mutter, dass sie bei ihrem 15 Monate (!) alten Sohn den Eigenverdacht auf Autismus habe und fragte um Rat, wohin sie sich zur Abklärung wenden könnte, weil der Kinderarzt erstmal noch abwarten möchte. Der erste Tipp war auch noch halbwegs sinnvoll, sie möge sich doch an das Projekt „Autismus-Früherkennung“ wenden. Danach driftete es aber sehr schnell ins Bodenlose ab. Neben der Aussage, dass epileptische Absencen ja ebenfalls zu Autismus gehören würden (nein, tun sie nicht), kam direkt die Frage, ob es denn mit der Einführung von Milch und Gluten in die Nahrung zusammenhängen könnte. Die Fragestellerin meinte, dass er schon länger Gluten äße und auch die Kuhmilch schon einige Monate trinken würde. Vermutlich hat er davor auch Säuglingsnahrung bekommen, wenn ich das Gespräch richtig interpretiere, die ja ebenfalls auf Kuhmilchbasis hergestellt wird. Also kann beides – streng logisch gedacht – überhaupt nicht in zeitlichem Zusammenhang zu den jetzt beobachteten Verhaltensweisen des Kleinkindes stehen. Ist aber der Ratgeberin dort völlig egal, sie empfiehlt ganz ungerührt, doch auf eigene Faust Gluten und Kuhmilch aus der Ernährung des Kindes zu verbannen und verwies dazu auf einen uralten Artikel im Ärzteblatt zum Thema Opioide durch Milch und einen damals fabulierten Zusammenhang zum Asperger-Syndrom. Sie versteigt sich sogar zu der Behauptung, dass es „überhaupt kein Problem“ sei, bei einem unter 2jährigen Kind den Eiweißbedarf ganz ohne Milch- und Sojaprodukte trotzdem zu decken. Das ist hochgradig gefährlicher Bullshit. Dummerweise sprang die Fragestellerin direkt darauf an und schrieb vor ein paar Tagen, dass sie ihr Kind jetzt komplett casein- und glutenfrei ernährt. Und fragte nach einem Labor, dass die Opiode testen könnte. Es ist müßig zu erwähnen, dass sie natürlich auch noch prompt ein Selbstzahlerlabor empfohlen bekommen hat, welches „biomedizinische“ Analysen durchführt und sich sehr gut dafür bezahlen lässt, oder? Alleine das bringt mich schon dazu, mit dem Kopf gegen die Wand rennen zu wollen.

Was mich aber wirklich aufregt: Es gibt keinerlei Gegenstimmen zu dieser brandgefährlichen „Beratung“. Weder von den Moderatoren noch von den anderen Nutzern dieses Forums wird auch nur ansatzweise auf die möglichen Folgen einer laienhaft durchgeführten Mangeldiät eingegangen. Niemand hat irgendetwas dazu geschrieben oder der Mutter auch nur mal geraten, dieses Vorhaben mit dem Kinderarzt zu besprechen oder eine wenigstens eine Ernährungsberatung für Kinder in Anspruch zu nehmen.

Ja spinnt ihr denn komplett?

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Anmerkungen zu „Mein Sohn leidet an der Form von Autismus, über die niemand spricht“

Ich bin gerade über soziale Netzwerke auf diesen Artikel der Huffington Post aufmerksam geworden. Schon die Überschrift hat es in sich. Und richtig, der ganze Artikel stammt eher aus dem Kuriositätenkabinett des Grauens. Ich kenne die Autorin Bonnie Zampino nicht und kann daher nicht beurteilen, wie genau sie es mit ihren Recherchen genommen hat, mutmaße aber, dass ihre genannten Zahlen frei erfunden sind, um dem ganzen die passende Dramatik zu geben. In Summe könnte auf diesem Artikel auch das Logo von Autism Speaks prangen.

Die Autorin prangert an, dass in den Medien ja auch mal positiv über Autismus berichtet wird und benennt ganz konkret Berichte über ein Mädchen, das wohl zur Ballkönigin gewählt wurde und über einen Jungen, der Kapitän der Basketballmannschaft seiner Schule ist. Ich frage mich „Na und?“ Was ist an Berichten darüber jetzt schlecht? Ich freue mich für die Beiden. Zeigen ihre Beispiele doch, dass Autisten eben nicht nur das in den Köpfen vorherrschende Klischeebild erfüllen. Oh hoppla. Genau das prangert ja die Autorin an. Es gäbe ja viel mehr Autisten, die mit Fäkalien schmieren (warum bietet ihnen niemand gesellschaftsfähige sensorische Alternativen?) und sich die Haare rausreißen und sich selbst beißen, bis sie bluten (Auslöser für selbstverletzendes Verhalten finden, anyone?). Sie ist also sehr bemüht, den positiven Beispielen einen Berg hochdramatischer (und zahlenmäßig vermutlich mehr als nur übertriebenen) negativen Assoziationen mit Autismus gegenüber zu stellen. Autismus als Horrordarstellung, als unsägliches Leid, was unvermeidbar über die Familien kommt. Ironischerweise dient aber ihr Post eigentlich dazu, anderen Menschen zu erklären, dass Autismus ja nichts ist, wovor man sich fürchten müsse und sie wünscht sich mehr echte Toleranz und Inklusion. Ein absoluter Widerspruch in meinen Augen. Ich kann mich doch nicht hinstellen und sagen „Ja, mein Sohn ist grundlos und ohne Vorwarnung aggressiv, er schlägt und tritt und beißt und sogar ich habe Angst vor ihm und zucke zusammen, wenn er auf mich zukommt.“ (alleine das zu wiederholen tut mir schon fast körperlich weh) und andererseits meine Mitmenschen verurteilen, wenn die dann sagen „Du hör mal, ich habe Angst um die Sicherheit meiner Kinder.“. Das ist paradox. Mal ganz davon abgesehen, dass es eben sehr wohl Gründe und Warnsignale gibt, ehe ein autistisches Kind zu so drastischen Mitteln wie körperlichen Übergriffen greifen muss. Erstaunlicherweise nimmt sie dann selbst Bezug auf die andere autistische Wahrnehmung, um das Verhalten zu erklären, allerdings ist offensichtlich die Tragweite und Bedeutung dieser Aussage bei ihr nicht angekommen.

Einen ganzen Absatz lang kann man dann lesen, wie schwer sie es doch als Mutter hat und was ihr alles verwehrt bleibt durch ihr autistisches Kind. Tatsächlich kann ich auch einiges davon nachvollziehen, es ist nicht leicht, wenn man Freunde verliert, weil das Kind schwierig ist. Wenn die halbe Familie den Kontakt zu einem abbricht und bei gemeinsamen Familienfeiern halblaut über einen gelästert wird, so dass man es auch unbedingt mitbekommt. Wenn Nachbarn betont nicht grüßen oder gar die Straßenseite wechseln, wenn man ihnen begegnet. Wenn Spielbesuche von Kindergartenfreunden oder Klassenkameraden entweder genauester Planung bedürfen oder gar völlig utopisch sind.
Mir fehlt bei ihr aber der Perspektivwechsel. Sie schreibt, dass sie um 6 Uhr morgens einkaufen ging, weil es da leerer war im Laden. Das ist eigentlich ein guter Ansatz, das vermindert nämlich die Reizüberflutung beim Kind. Aber nein, sie hat das nicht für ihr Kind getan. Sie hat sich aufgeopfert, um die Gesellschaft vor ihrem Sohn zu beschützen. Sie merkte nicht, dass ihr Sohn vermutlich auf dem Spielplatz mit den anderen Kindern überfordert war, sie blieb zu Hause um ganz selbstlos die anderen Kinder zu beschützen. Ihr Sohn ging nicht nicht in den Kindergarten, um ihn vor der sozialen Überforderung zu schützen sondern weil sie sich geopfert hat, um die Sicherheit der anderen Kinder zu gewährleisten. Für mich liest sich das sehr nach Mitleidshascherei. Nach „Seht her, ICH haben mich für euch aufgeopfert, honoriert das gefälligst“.

Andererseits beschwert sie sich aber über fehlende Toleranz ihrer Mitmenschen und fordert Inklusion. Dabei bringt sie noch nicht mal selber die Toleranz auf, positive Berichte über Autisten einfach so stehen zu lassen. In den Medien wird ohnehin viel zu negativ über Autismus geschrieben. Sie bringt keinerlei Toleranz für die Perspektive ihres Sohnes auf, fordert aber, dass andere gefälligst lernen müssten, ihm und ihr gegenüber toleranter zu sein. Ja wie denn, wenn sie es ihnen nicht vorlebt? Wenn sie statt sachliche Aufklärung über Autismus zu betreiben, um den Mitmenschen viele unbegründete Ängste zu nehmen lieber Horrorszenarien entwirft?

Liebe Bonnie Zampino, mein Sohn leidet nicht an einer Form von Autismus, über die niemand spricht. Mein Sohn ist Autist. Mit seinen Stärken und mit seinen Schwächen. Ich freue mich über jeden Bericht einer autistischen Ballkönigin. Weil es zeigt, dass auch Artikel wie der Ihre es nicht schaffen tatsächliche Inklusion zu verhindern. Zum Glück.

Edit vom 29.09.2015 Vormittag: Der deutsche Artikel wurde offenbar inzwischen überarbeitet. Die Zahlen wurden durchweg nach unten korrigiert und die Selbstbeweihräucherung der Mutter, dass sie ihren Sohn ja nur den anderen Menschen zu liebe und nicht um seinetwillen von ihnen fern gehalten hat, wurde um so einige Nebensätze, die eben diese Aussage trugen, gekürzt. Dadurch wirkt der Artikel insgesamt harmloser als er es gestern war. Ich hätte Screenshots machen sollen.

Warum ich Autism Speaks boykottiere – Why I #BoycottAutismSpeaks

Vor ein paar Tagen stolperte ich über einen Aufruf zu einer Flashblogaktion mit dem Thema und für mich war schnell klar, dass ich die Gelegenheit nutzen möchte, meine Meinung zu „Autism Speaks“ niederzuschreiben.

„Autism Speaks“ ist eine Organisation, die 2005 von Bob und Suzanne Wright gegründet wurde, nachdem bei einem ihrer Enkel Autismus diagnostiziert wurde. Durch seine guten Kontakte als Direktor von NBC schaffte es Bob Wright recht schnell, in den Medien präsent zu sein und so wurde „Autism Speaks“ quasi über Nacht bekannt und zur größten Organisation zum Thema Autismus in den USA. Durch prominente Unterstützung, Wohltätigkeitsveranstaltung und Spendensammlungen kommen pro Jahr über 100 Millionen US-Dollar an Einnahmen zusammen. Diese Gelder werden aber nicht etwa investiert, um Autisten und ihren Familien direkt zu helfen (dafür wurden 2013 sagenhafte 4% der Finanzmittel ausgegeben) sondern das Geld fließt zum größten Teil in Werbung und Medienkosten (über 40%) und in die Forschung. Jetzt könnte man ja Forschung zum Thema Autismus prinzipiell begrüßen und das tue ich auch. Und trotzdem lehne ich die Forschung von „Autism Speaks“ ab. Deren Ziel ist es nämlich nicht, mehr über Autismus herauszufinden und Ansätze zu entwickeln, Autisten das Leben zu erleichtern sondern deren Ziel ist:

Zitat „[…] ultimately eradicate autism for the sake of future generations.  If we continue our current trajectory, we’ll get there in my lifetime.“ (Suzanne Wright in einem Gastbeitrag der Zeitschrift „Parade“ 2008).

Übersetzung: „Autismus letztendlich zum Wohl zukünftiger Generationen auszurotten. Wenn wir auf dem derzeitigen Kurs weitermachen, werden wir es noch zu meinen Lebzeiten erreichen.“

Es sollte eigentlich jedem klar sein, was so eine Aussage wirklich bedeutet. Wenn man Autismus „ausrotten“ sagt, dann meint man damit Autisten „ausrotten“. Und folgerichtig beschäftigt sich die Forschung von „Autism Speaks“ mit der Erfassung von Genomen mit dem Ziel, einen pränatalen Test auf Autismus zu entwickeln. Was dies dann bedeuten wird kann man auch heutzutage schon sehr gut erkennen. Dank der vorgeburtlichen Tests auf das Down-Syndrom werden heutzutage über 90% der Kinder mit dem Down-Syndrom abgetrieben. Wer wirklich glaubt, dass es bei Autismus anders wäre ist meiner Meinung nach hoffnungslos naiv. Noch dazu weil „Autism Speaks“ wirklich alle Register zieht, um Autismus als etwas Schreckliches, Bedrohliches, Grauenvolles, Dunkles und Lebenzerstörendes darzustellen. Im letzten Jahr haben sie einen aufwändig produzierten Videospot herausgebracht, mit dem sich Quergedachtes schon ausführlich beschäftigt hat (unbedingter Lesetipp!)
https://quergedachtes.wordpress.com/2014/06/12/autismus-ein-kammerspiel/

Dass in dieser Organisation, die sogar im Namen trägt, dem Autismus eine Stimme zu geben, keine Autisten selbst zu Wort kommen dürfen und Gegenstimmen aus der autistischen Community ignoriert werden, ist da dann auch nur noch logisch. Nein, sie geben nicht dem Autismus eine Stimme, sie sprechen nicht für Autisten, sie sprechen nicht für viele Familien, sie sprechen nicht für mich. Sie sollten dringend lernen zuzuhören.