Wer diese Frage merkwürdig findet, dem geht es wie mir. Tatsächlich hat sich der Begriff „Aktivist“ in letzter Zeit schon fast zu einer Art Beschimpfung entwickelt. Zumindest in den Bereichen Autismus und Inklusion. Ich empfinde das als Paradoxon. Immerhin ist ein Aktivist jemand, der „in besonderer Weise für die Durchsetzung bestimmter Ziele eintritt“ (Wikipedia). Und Aktivismus ist das Gegenteil von Attentismus, einer passiven Haltung, bei der man abwartet, ob sich die Situation klärt, die Dinge einfach aussitzt.
Als mir das erste Mal gesagt wurde, ich sei eine Aktivistin für Inklusion und Autismus, fühlte ich mich geehrt. Ich sah mich selbst nicht so, hielt mein Handeln für selbstverständlich. Mit den „Aktivisten“ im Bereich Autismus und Inklusion verband ich Namen von Menschen, die mir große Vorbilder sind und von denen ich selbst sehr viel lernen konnte und noch bis heute lerne. Und auf einmal sollte ich auf einer Stufe mit ihnen stehen? Jemand sein, der anderen Hoffnung gibt? Das machte mich verlegen. Und ermutigte mich, mich weiterhin für meine Überzeugungen einzusetzen. Ich trete aus vollem Herzen dafür ein, dass Menschen mit Behinderung (nicht nur Autisten) die gleichen Rechte haben wie alle anderen auch. Und dass diese Rechte nicht nur irgendwo auf dem Papier stehen sondern auch wirklich umgesetzt werden. Dafür setze ich mich nicht nur online ein sondern auch direkt hier vor Ort. Wenn ich hier dafür kämpfe, dass Paul sein Recht auf den Besuch der nächstgelegenen Schule wahrnehmen kann, dann tue ich das natürlich in allererster Linie für ihn. Aber auch für alle anderen Kinder. Übrigens egal, ob mit Behinderung oder ohne. Von einem inklusiven Unterricht profitieren nämlich alle.
Warum ist also „Aktivist“ zu sein neuerdings eine Beschimpfung? Die Ursachen dafür sind vielschichtig. Bei Inklusion ist es so, dass diejenigen, die sich für Inklusion einsetzen, gleich von mehren Fronten aus angegriffen werden. Ich beschränke mich zur Verdeutlichung auf den schulischen Bereich, obwohl Inklusion natürlich sehr viel umfassender ist. Da haben wir die Eltern nichtbehinderter Kinder. Denen wird gerne mal suggeriert (von Schulen, aber auch von manchen Medien), dass ihre Kinder durch Inklusion schwere Nachteile erleiden würden. Die Klassen würden überschwemmt werden von verhaltensauffälligen, aggressiven und störenden Kindern mit Behinderung, so dass die „normalen“ Kinder ja überhaupt nichts mehr lernen könnten. Das ist natürlich Quatsch. Reicht aber aus, um Ängste zu schüren. Dann gibt es Eltern behinderter Kinder, die das Förderschulsystem gut finden. Die Gründe dafür klammere ich hier mal aus, das würde zu weit führen. Diese Eltern greifen Inklusionsbefürworter dafür an, dass beispielsweise Sonderpädagogen zukünftig nicht nur exklusiv an Förderschulen verfügbar sein werden sondern auch an Regelschulen. Sie glauben, dass die Inklusionsbefürworter an der verfehlten Schulpolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte schuld seien und die Verantwortung für den eklatanten Lehrermangel trügen. Was ebenfalls völliger Quatsch ist. Und für mich auch nicht nachvollziehbar. Ich twitterte neulich: „Wenn die Förderschule eurer Kinder schlecht ist, ist daran nicht die Inklusion schuld sondern die Schulpolitik.“ Und dann gibt es noch die Lehrer und Schulen selber. Sie fühlen sich den zusätzlichen Aufgaben nicht gewachsen und halten gerne an „Das haben wir aber schon immer so gemacht“ fest. Auch sie schieben den schwarzen Peter lieber den Inklusionsbefürwortern zu als die erforderlichen Ressourcen bei den dafür zuständigen Stellen einzufordern. Nach meinem Eindruck wird das aber durchaus bewusst gesteuert. Inklusionsbefürworter werden daher durchaus schon als „idealistische Träumer“ bis hin zu „radikalen Gleichmachern“ beschimpft. Dabei hat Inklusion rein gar nichts mit Gleichmacherei zu tun.
Bei Autismus sind mit „Aktivisten“ meist diejenigen gemeint, die öffentlich über Autismus aufklären und Dinge kritisieren. Während Aufklärung über Autismus meist noch wohlwollend gesehen wird, scheint deutliche Kritik an Dingen wie beispielsweise ABA oder Fixierung autistischer Kinder eher unerwünscht zu sein. Oder wenn die Kritik denn unbedingt sein muss, dann aber so, wie es andere gerne sehen würden.
Genau da liegt aber der Denkfehler. Ich setze mich gerne für die genannten Themen ein. Aber mein Aktivismus bedeutet auch, dass ich es auf meine Art mache. Jedem anderen steht es frei, meine deutlichen Worte und auch mal emotionalen Äußerungen doof zu finden. Man kann mich kritisieren dafür, was ich sage und wie ich es sage. Ich lese diese Kritik bzw. höre sie mir an. Ist sie berechtigt, werde ich meine Fehler korrigieren und mich gegebenenfalls auch entschuldigen. Ich bin zu kontroversen Diskussionen bereit. Im Gegenzug erwarte ich diese Bereitschaft auch von anderen. Man muss auch nicht am Ende einer Meinung sein. Aber ich werde mir nicht den Mund verbieten lassen oder mir vorschreiben lassen, wen ich wie zu kritisieren habe. Ich versteige mich nicht dazu, andere hintenrum zu kritisieren, ich ziehe stets die direkte Konfrontation vor. Mir ist klar, dass andere das anders handhaben. Dürfen sie. Aber mein Aktivismus ist eben mein Aktivismus. Ich bin der Meinung, dass in manchen Bereichen schon viel zu lange geschwiegen und abgewartet wurde. Ich finde die lauten Proteste der letzten Zeit gut. Ich fand die Ankettaktion vor dem Reichstagsgebäude zum Bundesteilhabegesetz großartig. Ich finde, Aktivismus, der etwas erreichen will, muss auch mal unbequem sein. Besonders dann, wenn all die Dialogversuche vorher ignoriert oder abgeschmettert wurden. Dann muss es halt mal plakativ werden. Anders findet man ja leider oft auch kein Gehör. Trotzdem steht jedem frei, selbst sein Glück auf diese Art zu versuchen. Wer mit ABA-Anbietern in einen Dialog einsteigen möchte, darf das gerne tun. Das ist dann seine Art von Aktivismus. Die kann durchaus zielführender sein als meine Art. Das weiß man vorher nicht. Deswegen ist aber keine der Arten besser oder schlechter. Meiner Meinung nach darf Aktivismus fast alles, so lange es sich im Rahmen der Gesetze bewegt. Ich finde auch nicht alles gut, was andere Aktivisten so machen. Persönliche Beleidigungen und Beschimpfungen gehen mir auch zu weit. Das kann ich dann aber auch sachlich kritisieren oder mir eben sagen „Okay, das ist mir zu derb, aber eben seine oder ihre Art, etwas zu erreichen.“
Fazit: Aktivismus ist individuell. Aktivisten sind keine homogene Masse. Man kann nicht alle Aktivisten über einen Kamm scheren (rw). Von daher ist es paradox, „die Aktivisten“ als negative Bezeichnung für eine Gruppe verschiedener Personen mit verschiedenen Ansätzen zu verwenden. Egal, ob es nun die „radikalen Inklusionsaktivisten“ oder die „hartnäckigen Autismusaktivisten“ sind.
Ich fühle mich übrigens immer noch geehrt, wenn ich als „Aktivistin“ bezeichnet werde. Wegen der Namen, die ich damit verbinde und weil ich weiß, dass ich dann offensichtlich deutlich machen konnte, wie sehr mir die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention für alle (auch für die, die Aktivisten und/oder Inklusion doof finden) am Herzen liegt.