IQ-Tests

So langsam verdaue ich den Schock von Montag. Wir hatten viel Hoffnung in den Kinderpsychiater gesteckt und sind jetzt schwer enttäuscht. Es hieß, er würde sich mit Autismus auskennen. Ich lache gerade bitter, geheult vor Frustration und Wut habe ich die letzten Tage genug. Die Kurzform der Geschichte: Es sollten bei Paul eine Dyskalkulie und der Verdacht auf ADHS abgeklärt werden. Darauf wurde auch in mehreren Terminen ausführlich getestet. Wir erfuhren im Vorfeld nicht, wie die Tests konkret ablaufen. Vermutlich hätten wir dem Ablauf sonst so nicht zugestimmt. Wir durften nicht dabei sein, Paul musste immer alleine zum Tester gehen. Da er uns auch nicht erzählen konnte, was dort konkret von ihm verlangt wurde, hatten wir eigentlich ein ganz gutes Gefühl. Beim Abschlussgespräch fielen wir dann wirklich aus allen Wolken. Ja, Paul hat eine schwere Rechenschwäche, der Verdacht hat sich eindeutig bestätigt. Nein, die Diagnose Dyskalkulie (und damit die spezielle Dyskalkulie-Förderung) bekommt er nicht. Im Rahmen der Diagnostik wurde nämlich ein IQ-Test durchgeführt und der hat ergeben, dass Paul eine generelle Lernbehinderung hat. Er hätte eine Intelligenzminderung. Moment mal, die Diagnose hatten wir doch schon mal und sie wurde inzwischen gestrichen, weil ein nonverbaler IQ-Test zeigte, dass er eben einen ganz durchschnittlichen IQ hat. Wie geht das denn?

Und da sind wir auch schon beim Thema der Überschrift. IQ-Tests und Autisten passen nicht so richtig zusammen. Das ist inzwischen auch allgemeiner Tenor bei vielen Autismus-Forschern. Momentan ist genau deswegen ein IQ-Test speziell für Autisten in der Entwicklung. Der kommt für Paul jetzt leider zu spät. Er ist ein ganz klassisches Beispiel dafür, dass IQ-Tests bei Autisten selten wirklich aussagekräftig sind. Mit 4 Jahren ergab ein nonverbaler IQ-Test (SON-R) eine schwere geistige Behinderung, die neben Autismus auch als zusätzliche Diagnose festgehalten wurde. Verbunden mit Aussagen wie „Wir glauben nicht, dass er besonders viel von seiner Umgebung mitbekommt“, „Er versteht Sie wahrscheinlich nicht.“ und „Er wird niemals eine Regelschule besuchen können oder selbstbestimmt leben.“ Besonders hart: „Sie sollten über ein Heim nachdenken.“ Ich war bei diesem Test dabei. Paul hatte einfach keine Motivation mitzumachen und hat verweigert. 2 verweigerte Aufgabenstellungen in Folge führen dazu, dass die Unter-Testreihe abgebrochen wird und als „nicht bestanden“ gewertet. Daher das katastrophale Ergebnis. Ein Jahr später wurde vom gleichen Tester erneut ein IQ-Test durchgeführt, weil wir schlicht an der diagnostizierten geistigen Behinderung zweifelten. Ich weiß nicht, welcher Test da angewendet wurde, jedenfalls wurde aus der geistigen Behinderung plötzlich eine Lernbehinderung. Der IQ war schlagartig um über 40 Punkte gestiegen. Das machte mich zum ersten Mal wirklich stutzig und ich las mich zum Thema Autismus und IQ-Tests ein. Ergebnis meiner Recherche: Sämtliche IQ-Testergebnisse sind bei Autisten mit sehr viel Vorsicht zu genießen, man sollte sie keinesfalls absolut nehmen sondern maximal als groben Anhaltspunkt ansehen. Und sie können auch total daneben liegen. Man wird bei einem unbekannten Test, der nicht vorher geübt wurde, nie ein zu hohes Ergebnis bekommen. Aber durch autismusspezifische Probleme bedingt oft ein zu niedriges. Was übrigens vermutlich auch zu diesem hartnäckigen Klischee geführt hat, dass alle (frühkindlichen) Autisten geistig behindert seien. Es passiert ja sogar heute noch, dass eine Autismusdiagnose direkt mit einer geistigen Behinderung assoziiert wird, was fatale Folgen für die Entwicklung haben kann. Eine permanente Unterforderung kann nämlich genauso viel Schaden anrichten wie andauernde Überforderung. Ganz besonders ausgeprägt ist das Risiko eines falsch-negativen Ergebnisses bei sprachlichen IQ-Tests. Deswegen wird dazu geraten, dass Autisten prinzipiell nonverbale Tests machen sollten, auch wenn sie über ein gutes Sprachvermögen verfügen.

Genau dies wurde aber in der kinderpsychiatrischen Praxis nicht gemacht. Paul wurde mit dem K-ABC getestet, der neben einem nonverbalen Teil eben einen sehr großen Sprachanteil hat. Und außerdem so lustige Aufgaben wie Gesichter wiedererkennen, sich selbst Handlungsabläufe erarbeiten, Quatschwörter nachsprechen und Bildgeschichten in die richtige Reihenfolge bringen. Alles Dinge, die vielen Autisten schwer fallen. Warum macht man sowas und greift nicht auf geeignetere Werkzeuge zurück? Es ist mir ein Rätsel.

Besonders fatal für Paul ist nun, dass dieses Ergebnis relevant ist für die Empfehlung der weiteren Beschulung. Wir hatten uns Unterstützung bei der Durchsetzung der Nachteilsausgleiche erhofft. Stattdessen haben wir jetzt die Empfehlung, ihn auf den zusätzlichen Förderschwerpunkt Lernen zu setzen. Dem haben wir jetzt auch mehr oder weniger gezwungenermaßen nachgegeben, zumindest nimmt das Paul den Druck in Mathe. Glücklich sind wir damit nicht. Vor allem, weil Paul in allen anderen Fächern die Lernanforderungen erfüllt. Er ist kein besonders guter Schüler, aber locker im Klassenschnitt. Jetzt heißt es für uns, dass wir darauf hoffen müssen, dass die Schule ihn wirklich nur in den Bereichen zieldifferent unterrichtet, in denen er es auch benötigt und nicht pauschal in allen. Und ich mache die Dyskalkulie-Förderung als Laie zu Hause mit ihm oder suche nach einem geeigneten Nachhilfelehrer, der sich außerdem mit Autismus auskennt. Denn geringere Anforderungen in Mathe lösen ja nicht das grundsätzliche Problem, was Paul mit Zahlen und Rechenzeichen hat. Frustrierend.

Ich glaube übrigens nicht, dass Paul intelligenzgemindert ist. Ich habe damals nicht an die geistige Behinderung geglaubt, später nicht an die Intelligenzminderung und ich tue es auch jetzt nicht. Zu viel spricht dagegen.

Aber ich bin enttäuscht und wütend, wie schnell ein Kind aufgrund eines sehr zweifelhaften Testergebnisses aussortiert und abgestempelt wird.

Werbung