Paul erkennt seine Grenzen

In einem Nachbarort ist dieses Wochenende Schützenfest. Die Kinder freuten sich sehr darauf. Sie gehen dort ganz gerne hin, schauen sich den Umzug an und fahren ein paar Runden Karussell. Es ist ein eher kleineres Schützenfest, der Festplatz ist überschaubar. Wir waren gestern Nachmittag schon mal dort, weil mein Mann dort aktiv mitwirkt. Da war der Festplatz verhältnismäßig leer und die Kinder sind auch schon Karussell gefahren. Alles war gut. Sie freuten sich auf den heutigen Festumzug und den Festplatz. Alles war genau abgesprochen.

Den Festumzug fanden beide toll. Wir gucken ihn uns immer zweimal an: Beim Abmarsch und bei der Ankunft auf dem Festplatz. Winken gemeinsam dem Papa und freuen uns über Bonbons und kleine Give-aways. beim zweiten Mal hielt Paul sich beim Durchmarsch der Musikzüge bereits die Ohren zu und versteckte sich an meinem Bauch. Ein Warnsignal für einen beginnenden Overload bei ihm. Trotzdem wollte er auch noch auf den (nun vollen) Festplatz und Karussell fahren. Gesagt, getan. Nach 2 Runden Karussell wollte er allerdings plötzlich aussteigen, kam zu mir und sagte „Mama, das ist mir alles viel zu laut hier, ich brauche eine Pause!“ Selbstverständlich gingen wir beide dann sofort an einen erheblich ruhigeren Ort, damit er sich ausruhen konnte. Ich sagte ihm, wie großartig ich das finde, dass er mir so klar sagen konnte, was sein Problem ist und wir unterhielten uns sogar darüber, was wir zukünftig machen können, um ihm zu helfen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir gemeinsam Lärmschutzkopfhörer für ihn kaufen wollen. Bisher hat er die immer verweigert, jetzt möchte er welche haben. Ich freue mich sehr darüber. Alleine, dass er mir klar sagen konnte, wie er sich fühlt und von sich aus eine Pause eingefordert hat, ist ein riesiger Fortschritt. Noch vor einem Jahr hätte er vermutlich wahlweise einen Meltdown mitten auf dem Platz erleben müssen oder wäre einfach los gerannt. Ich bin stolz auf ihn.

Vor ein paar Minuten kam Paul extra nochmal zu mir und hat sich dafür bedankt, dass die Pause ihm sehr gut getan hat. Das wäre natürlich nicht nötig, bestärkt mich aber darin, dass die Art, wie wir mit ihm umgehen, ihm gut tut.

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Von Null auf Overload in 10 Minuten

Gestern fand in der hiesigen Autismusambulanz zum zweiten Mal ein Familiennachmittag statt. Der erste Familiennachmittag war einfach entspannt und toll, die Kinder haben miteinander gespielt, während die Erwachsenen sich bei Kaffee und Kuchen unterhielten. Beide Kinder waren begeistert und so freuten sie sich sehr auf den gestrigen Nachmittag und waren schon ganz hibbelig.

Leider ging es diesmal beinahe nach hinten los (rw). Die Tische waren in einem anderen Raum aufgebaut, der leider eine ganz schlechte Akustik hat. Der Raum eignet sich wunderbar für Vorträge, aber nicht, wenn mehrere Menschen durcheinander sprechen, Geschirr klappert und Kinder spielen. Das verwebt sich zu einem großen und lauten Geräuschteppich. Ich beschreibe mal meine Empfindungen, weil Paul sich nicht so differenziert ausdrücken kann. Ich hörte ein Wirrwarr von Stimmen und Gesprächen und hatte das Gefühl, von jedem Gespräch ein paar Wörter und Satzfetzen aufzuschnappen, war aber kaum in der Lage zu verstehen, was mir Pauls Therapeutin erzählen wollte, obwohl sie mir direkt gegenüber saß. Ich musste auf ihren Mund gucken, um ihr überhaupt folgen zu können und hab trotzdem nur etwas mehr als die Hälfte des Gesagten verstanden. Dazu kam dann das Klappern von Geschirr und bei jedem noch lauteren Geräusch zuckte ich förmlich zusammen. Wie muss es da erst Paul ergangen sein, der ja generell akustisch sehr empfindlich ist? Er saß jedenfalls ein paar Minuten neben mir und aß ein Stück Kuchen. Als er dann allerdings von seiner Therapeutin (die er wirklich sehr mag) angesprochen wurde, vergrub er seinen Kopf an meinem Bauch und ich sollte ihn „verstecken“. Das bedeutet, dass ich ihn dann mit meinen Armen von der Umwelt abschirme oder ihn manchmal sogar unter meine Jacke nehme. Und ich verstand ihn, ich glaube, ich wusste ziemlich genau, was in ihm vorging. Er weinte fast.

Zum Glück gab es eine Ausweichmöglichkeit, die Kinder konnten draußen auf dem Spielplatz spielen, was Paul und sein kleiner Bruder dann auch ausgiebig genossen. In der hintersten Ecke, so weit wie möglich weg vom Geschehen. Ich kann es ihnen nachempfinden.

Faszinierend zu beobachten war es aber auch, wie verschieden Autisten sind und reagieren. Paul, der ja gemeinhin als relativ unauffällig gilt, war der einzige von ungefähr 8 anwesenden Autisten, der derart große Probleme mit der Akustik hatte. Den anderen schien es nicht so viel oder gar nichts auszumachen. Was wieder bestätigt, dass „Kennst du einen Autisten, kennst du genau einen“ zutrifft.

Paul selbst hat die Enttäuschung und Reizüberflutung des Nachmittags dann doch noch ganz gut weggesteckt, er lernt immer besser, sich selbst zu regulieren und für ihn hilfreiche Handlungen wie Stimming einzusetzen.

Bitte sagt nicht „Wutausbruch“

Mir fällt es immer wieder auf, dass in Beschreibungen über das Verhalten autistischer Kinder von „Wutausbrüchen“ oder auch „Trotzanfällen“ die Rede ist. Ich finde diese Wortwahl fatal. Bei einem Meltdown, also dem totalen Zusammenbruch durch fortwährende Reizüberflutung und Überlastung, kann es zwar auch zu selbst- und fremdaggressivem Verhalten kommen, es hat aber mit Wut oder Trotz überhaupt nichts zu tun. Ein autistischer Meltdown ist etwas völlig anderes. Im Gegensatz zu normalen Wut- oder Trotzanfällen kann das Kind sein Verhalten in einem Meltdown nicht steuern. Es kann ihn auch nicht zielgerichtet einsetzen, um seinen Willen durchzusetzen. Und gerade das wird Eltern autistischer Kinder ja oft an den Kopf geworfen. Man sollte „doch mal konsequenter sein“, „dem Kind nicht alles durchgehen lassen“, sich „nicht manipulieren lassen“, „strenger sein“ und so weiter und so fort. Das kennt ihr vermutlich alle in der einen oder anderen Form. Genau deswegen möchte ich hier dafür plädieren, auf die Wortwahl zu achten.

Ein konsequentes Erziehungsverhalten zeigt bei echten Trotz- und Wutanfällen bei Kindern (auch bei autistischen) tatsächlich Wirkung, bei einem Meltdown ist es aber absolut fehl am Platz. Da hilft oft nur eine Minimierung der Reize, eine Rückzugsmöglichkeit und abwarten. Schimpfen, auf das Kind einreden oder das Belassen in der Überlastungssituation sind kontraproduktiv.

Meine Bitte an euch, liebe Eltern und Fachleute: Wenn ihr über einen Meltdown sprecht oder schreibt, dann nennt ihn auch bitte so, um die Abgrenzung zu Wut- und Trotzanfällen deutlich zu machen. Leider gibt es kein wirklich adäquates deutsches Wort dafür, am ehesten trifft es dann noch der Begriff Zusammenbruch.

Zum Weiterlesen über Overloads, Meltdowns und Shutdowns aus der Innenperspektive:

https://innerwelt.wordpress.com/2013/04/11/overload-melt-und-shutdown/

https://kanner840.wordpress.com/2014/04/15/shutdownoverloadmeltdown/

https://queerdurchsleben.wordpress.com/2015/10/29/piep/

Edit 02.01.2016: Eine sehr anschauliche Grafik, die die Unterschiede sehr schön demostriert.

Wutanfall_Meltdown_Unterschied_deutsch