Prognosen

oder auch „Der Blick in die Kristallkugel“

Im Laufe von Pauls bisherigem Leben bekamen wir von Ärzten, Psychiatern und Psychologen schon eine ganze Menge Prognosen, was Paul können wird oder nicht. Die meisten davon waren falsch. Hier mal eine kleine Auswahl:

„Laufen? Wenn Sie Glück haben. Vielleicht so mit 3 oder 4 Jahren.“

Diese Aussage traf ein Arzt in der Frühchensprechstunde im SPZ. Paul war 9 Monate alt, korrigiertes Alter 6 Monate. Er lief mit 16 Monaten an Möbeln entlang, mit 18 Monaten frei.

„Wenn er in dem Alter noch nicht spricht, dann wird das wahrscheinlich auch nichts mehr.“

Paul war 4 Jahre alt. Der Satz fiel während der Autismusdiagnostik im SPZ. Er redet und redet und redet. Fast ununterbrochen, wenn er zu Hause ist. Momentan üben wir, dass er uns bei Telefonaten oder in Gesprächen mit anderen Menschen nicht permanent unterbricht.

„Er ist schwerst geistig behindert. Er wird nie lesen und schreiben lernen können.“

Auch dies ist eine Aussage von Psychologen aus dem SPZ. Diesmal beim Abschlussgespräch zur Diagnostik. Sie gingen davon aus, dass Paul wenig bis gar nichts von seiner Umgebung mitbekommt und nicht versteht, was um ihn herum vorgeht. Ein dramatischer Irrtum. Er kann sich an Dinge erinnern, die noch vor dieser Diagnose lagen, zitiert wörtlich aus Gesprächen dieser Zeit. Er liest inzwischen sehr gut und flüssig, auch wenn er anfangs damit große Probleme hatte. Und er schreibt. Zu seinem momentanen Spezialinteresse hat er ein ganzes „Buch“ mit 25 Seiten angelegt. Mittlerweile schreibt er auch schon manchmal Texte am Computer.

„Fahrradfahren? Das können Sie vergessen!“

Paul fährt täglich auf dem Hof. Er lernte es letztes Jahr, da war er 9. Er ist nicht verkehrssicher, ich würde ihn noch nicht im Straßenverkehr Radfahren lassen, aber das kommt ziemlich sicher auch noch irgendwann.

„Eine Regelschule wird er definitiv nicht besuchen können!“

Was soll ich sagen, unter dem Stichwort Inklusion kann man hier Pauls Geschichte auf der Regelschule nachlesen. Es funktioniert. Momentan auch wieder ohne ganz große Probleme.

Das sind nur einige Beispiele, ich könnte noch eine ganze Weile so weitermachen. Aber ich denke, es ist bis hierhin schon sehr deutlich geworden, dass die Prognosen weit von der Realität abweichen. Paul ist eine Wundertüte, er überrascht uns immer wieder. Leider haben diese Prognosen auch eine gefährliche Kehrseite. Hätten wir sie alle geglaubt, wäre Paul dann auch dort, wo er heute ist? Hätten wir nicht doch eine Förderschule gewählt, weil es das SPZ so vorhergesagt hat? Seine diagnostizierte schwere geistige Behinderung als gegeben angenommen und wären dann vielleicht in die Schonraumfalle getappt, um ihn nicht zu überfordern? Hätte er lesen und schreiben gelernt, wenn wir es ihm nicht zugetraut hätten? Ich weiß es nicht. Aber es macht mir Angst, wenn ich von anderen Eltern lese, die ebenfalls solche oder ähnliche Prognosen bekommen und daran resignieren. Die ihr Kind plötzlich mit diesem negativen Blick sehen, den offenbar manche Fachleute haben. Ich möchte den Eltern daraus auch gar keinen Vorwurf machen, mir wäre es beinahe auch so gegangen. Ich hatte ja keine Ahnung von Autismus, woher sollte ich also wissen, dass ganz viele solcher Prognosen im frühen Kindesalter falsch sind? Dass auch auch die Diagnostiker nur spekulieren können, wie sich das Kind weiter entwickelt, weil Autismus eben eine riesige Bandbreite umfasst? Aber ich möchte euch ermutigen, liebe Eltern. Ich erzähle euch von unseren Prognosen, damit ihr seht, dass noch lange nicht alles stimmen muss, was euch über die Zukunft eures Kindes erzählt wird. Nehmt solche Prognosen nicht als gegeben und felsenfeste Wahrheiten hin. Seht sie eher wie einen Blick in die Kristallkugel eines Wahrsagers. Es kann eintreffen, aber es kann auch genauso gut ganz anders kommen.

Es gibt Tage, an denen ich wütend bin, dass besonders das SPZ Paul so negative Prognosen gegeben hat. Wütend, dass sie sein Potenzial so falsch eingeschätzt haben. Aber meistens bin ich einfach nur stolz auf Paul. Auf das, was er so leistet. Wie viele dieser Aussagen er schon ad absurdum geführt hat. Und ich bin sehr gespannt auf den Weg, der noch vor ihm und uns liegt. Viele Prognosen gibt es inzwischen nicht mehr. Es hat sich bei der Vorgeschichte schon länger niemand mehr getraut, längerfristig die Zukunft vorhersagen zu wollen. Eine einzige gibt es noch.

„Er wird niemals selbständig leben können!“

Wir werden sehen.

 

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Kleinkindzeit oder irgendwas ist anders

Einige Monate nach Pauls Geburt fiel ich emotional in ein tiefes Loch. Ich zweifelte an mir als Mutter und an meiner Liebe zu diesem kleinen Wesen. Überall las und hörte ich, man könne am Schreien des Babys seine Bedürfnisse erkennen. Ich konnte es auch nach Monaten nicht. Er schrie immer gleich. Ich musste immer raten, ob es nun Hunger, Müdigkeit oder eine volle Windel waren, die ihn störten. Das einzige Schreien, das sich unterschied, war wenn er Schmerzen hatte. Das erkannte ich sofort. Ansonsten machte ich mir Vorwürfe und wurde depressiv. Die Ärztin schickte mich zu einer Psychologin mit Verdacht auf postpartale Depression. Die Psychologin war mir allerdings auch keine Hilfe, sie erzählte mir nur, wieviel schlechter es doch anderen Menschen ginge. Aber zumindest weckte sie dadurch meine Trotzhaltung und „Jetzt erst recht“ wurde mein neues Motto.

Paul indes entwickelte sich recht gut. Die Ärzte in der Frühchensprechstunde im SPZ waren sehr zufrieden. Er krabbelte und schien keine motorischen Defizite aufzuweisen, wenn man das korrigierte Alter annahm. Auch dem Kinderarzt fiel bei den U-Untersuchungen nichts auf. Der erste Verdacht, dass etwas nicht so läuft wie es sein sollte, kam uns Eltern. Paul war da etwas über ein Jahr alt. Er sprach genau mit 12 Monaten die ersten 2 Wörter: „Teddy“ und „Ball“. Jedes Wort sagte er nur ein einziges Mal und dann nicht wieder. Auch neue Wörter kamen nicht. Wir sprachen es beim Kinderarzt an. Der fand dies jedoch nicht beunruhigend, wir sollten nicht so ungeduldig sein, Jungen sprechen einfach später. Mit 13 Monaten stand Paul das erste Mal am Schrank, mit 18 Monaten lief er frei. Wir waren absolut stolz auf ihn. Wir übersahen, dass er seine Umgebung nicht erkundete. Er zog keine Bücher aus dem Regal, machte keine Schubladen oder Schranktüren auf. Er spielte auch nicht wie ein normales Kind. Er drehte Gegenstände vor seinen Augen und er trommelte stundenlang auf einem kleinen Lederhocker, der im Wohnzimmer stand. Draußen zu sein war ihm immer noch unheimlich, er weinte jedes Mal. Dafür liebte er das Autofahren. Eigentlich. Wenn es regnete und der Scheibenwischer eingeschaltet wurde, brüllte er. Und brüllte und brüllte. Den Zusammenhang erkannten wir erst nach einer Weile und vermieden ab da, bei Regen mit dem Auto unterwegs zu sein.

Besuche mit Übernachtung auswärts endeten immer in Katastrophen. Meine Eltern wohnen 4 Stunden Autofahrt entfernt. Wir fuhren zu ihnen, geplant waren 2 Tage. Als wir dort ankamen, war Paul zwar etwas unruhig, aber es ging ihm gut. Bis wir schlafen gehen wollten. Er fing an zu schreien und bekam plötzlich hohes Fieber. Noch in der gleichen Nacht fuhren wir wieder nach Hause, weil wir uns sehr große Sorgen um ihn machten und er auch das Essen und Trinken komplett verweigerte. Kaum zu Hause angekommen, war das Fieber so plötzlich verschwunden wie es gekommen war. Die nächsten Auswärtsbesuche verliefen dann etwas besser, er wurde nicht mehr krank, aß allerdings fast nichts und konnte lange auch nicht schlafen, was zu tiefen Augenringen bei uns Eltern führte.

Die Sprache blieb weiterhin aus, der Kinderarzt fand das auch weiterhin nicht beunruhigend: „Er ist ein Frühchen, der darf das…“

Nichtsdestotrotz wollte ich nach 2 Jahren wieder arbeiten gehen. Wir begannen also mit der Eingewöhnung bei einer Tagesmutter. Und scheiterten grandios. Liebe Marlene, falls du das hier jemals liest: Dich trifft keine Schuld! Paul stand immer am Fenster, wenn ich ging und schrie mir hinterher. Soweit, so normal. Aber er war durch nichts zu motivieren, sich an den Aktivitäten zu beteiligen. Er wollte nicht am Essen teilnehmen, nicht vorgelesen bekommen, nicht spielen. Bestenfalls legte er sich hin und schlief erschöpft ein, aber auch dies war für die Tagesmutter nicht händelbar, da dadurch die anderen Kinder nicht spielen oder rausgehen konnten. Und wenn Paul nach 3 Stunden nach Hause kam schrie er. Stundenlang. Und war durch nichts zu beruhigen. Mein kurzer Ausflug in die Arbeitswelt endete nach 5 Wochen.

Dabei blieb es für die nächsten 2 Jahre. Heute ist mir nicht mehr ganz klar, wie ich diese Zeit zu Hause überstand. Pauls Verhalten wurde immer auffälliger, Hilfe war nicht in Sicht.
Darüber schreibe ich demnächst mehr.