Paul erklärt…Stimming

Heute gab es einen beachtenswerten Dialog zwischen den Geschwistern im Auto. Der kleine Bruder fragte Paul „Was machst du eigentlich immer mit deinen Fingern?“
Paul legt sehr häufig die Fingerspitzen beider erhobener Hände nacheinander gegeneinander und klopft auch die Fingerknöchel aneinander.

Als Paul nicht antwortete, sagte der Papa zum Kleinen „Das ist Stimming. Es gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit.“

Paul widersprach: „Nein, nicht Sicherheit, das mache ich, damit ich weiß, es ist alles in Ordnung!“

Papa: „Und dann fühlst du dich sicherer?“

Paul: „Oh ja, stimmt. Ich fühle mich dann auch sicherer.“

Kleiner Bruder: „Das ist gut“

Ich saß daneben und schmolz dahin. Paul ist jetzt 10 Jahre alt und auf einem sehr guten Weg zur Selbstakzeptanz als Autist. Ich finde es großartig, so wünsche ich es mir für ihn.

Bis zu diesem Punkt zu gelangen war nicht einfach. Wie es jetzt dazu kam, werde ich auch noch erzählen. Aber nicht heute.

 

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Stimming? Selbstverletzung? Zwang?

Ich bin ziemlich ratlos und hoffe auf eure Meinungen und Kommentare.

Die Vorgeschichte ist etwas länger. Ich hole vorsichtshalber mal weiter aus. Als Paul noch klein war trommelte er gerne auf einem Leder-Fußhocker. Das fing an als er sich alleine durch den Raum bewegen konnte und endete als wir den Hocker beim Umzug entsorgt haben, weil er völlig kaputt war. Schon damals fand ich dieses Trommeln ungewöhnlich, habe es ihm aber gelassen, weil es ihm offensichtlich gut tat. An Autismus dachte da noch niemand, die Diagnose lag noch ein paar Jahre in der Zukunft. Der Hocker war nun also nach dem Umzug weg. Paul kreiselte mit einem Ball (und auch mit anderen Gegenständen, aber hauptsächlich mit diesem Ball). Immer öfter und immer länger. Irgendwann kreiselte er nicht mehr nur sondern trommelte auch leicht darauf. Ich ließ ihn. Doch die Intensität steigerte sich weiter und weiter. Zu der Zeit ging er noch nicht in den Kindergarten. Es kam so weit, dass er quasi in seiner gesamten Wachzeit nichts anderes mehr machte als diesen Ball zu kreiseln und darauf zu trommeln. Er war für uns dabei auch überhaupt nicht ansprechbar oder erreichbar. Und ich habe wirklich viel versucht, mit ihm in Kontakt zu kommen. Legte man den Ball zur Seite schrie er und schlug um sich. Sprechen konnte er da noch nicht. Ich gab irgendwann auf ihn erreichen zu wollen. Nach ein paar Monaten ertrug ich allerdings dieses Geräusch nicht mehr ständig direkt neben mir. Und so habe den Ball in Pauls Zimmer verbannt. Er durfte nur noch dort damit „spielen“. Das hat er (heute muss ich sagen erstaunlicherweise) auch binnen 2 Tagen so akzeptiert. Und es öffnete sich so auch ein Kommunikationsfenster zu Paul. Er war dann in der Zeit ohne Ball für uns ansprechbar. Ungefähr zu der Zeit begann er auch mit dem Sprechen und kurz danach bekamen wir die Autismus-Diagnose, die vieles von dem vorherigen Verhalten plötzlich erklärbar machte. Mit dem Eintritt in den Kindergarten verbrachte Paul wieder mehr Zeit mit dem Ball. Offensichtlich zum Abschalten und Entspannen. Er verarbeitete auf diese Weise seinen Tag. Der Ball ging kaputt, wir ersetzten ihn mehrfach. Es tat ihm ja offensichtlich gut und half ihm. Doch irgendwann kippte es. Paul war nur noch fixiert auf seinen Ball. Sofort beim Heimkommen ging er in sein Zimmer und kreiselte und trommelte. Bis zur Schlafenszeit. Nur noch unterbrochen durch kurze Pausen zum Essen und Anschauen seiner Lieblingsserie. Das Trommeln wurde lauter und lauter. Eines Tages schrie Paul plötzlich laut los. Ich stürmte zu ihm. Er blutete. Die Haut an einer seiner Fingerkuppen war aufgeplatzt und er hatte offensichtlich Schmerzen. Ich versorgte seine wunde und hoffte, dass sich diese Erfahrung auch auf das Trommeln auswirkt. Leider vergeblich. Irgendwann war ich mir sicher, dass aus dem Stimming ein handfester Zwang geworden war. Und überlegte fieberhaft, welche Alternativen zu diesem Ball wir Paul anbieten könnten. Wir probierten viel aus, nichts davon funktionierte. Ein paar Wochen später eskalierte die Situation drastisch. Es war ein Sonntagmorgen, ich erwachte mal wieder vom dumpfen Trommeln, ging in sein Zimmer und war geschockt. Der Ball war nicht mehr grau sondern rötlich-bräunlich. An beiden Händen waren mehrere Fingerkuppen aufgeplatzt. Das konnte ich nicht mehr ertragen. Ich nahm ihm den Ball weg und schloss ihn ein. Ein Akt der puren Verzweiflung und sicherlich eine Katastrophe für Paul. Aber wir wussten uns einfach nicht mehr anders zu helfen. Trotzdem tut mir das bis heute leid, Paul hat sich tagelang massiv durch den „Entzug“ gequält. Aber irgendwann war es überstanden. Der Ball war weg und es war okay für ihn. Wir atmeten auf. Ein paar Monate herrschte jetzt Ruhe. Dann fing es schleichend wieder an.

Anfangs ganz harmlos. Paul klopfte sich bei Anspannung und zur Beruhigung leicht auf die Oberschenkel. Ich habe mich sogar noch gefreut, weil ich dachte, dass er diese Art von Stimming auch problemlos beibehalten kann, ohne damit großartig in gesellschaftliche Probleme zu kommen. Er achtet ja sehr darauf, nach außen unauffällig zu sein. Doch schleichend steigerte sich auch diesmal wieder die Intensität. Erst wurde das Klopfen langsam stärker. Dann begann er, es zusätzlich mit dem Im-Kreis-Laufen zu kombinieren. Aus dem Laufen wurde Trampeln. Und aus dem Klopfen inzwischen laut hallende Schläge. Ich redete mit ihm, versuchte zu ergründen, warum sich das steigert. Er kann es nicht erklären, konnte es aber immer noch problemlos unterbrechen. Inzwischen geht auch das nicht mehr. Er igelt sich wieder ein, lässt sich kaum noch auf andere Aktivitäten hier zu Hause ein und wird sofort aggressiv, wenn man versucht ihn zu unterbrechen. Und jetzt stehe ich an einem Punkt, an dem ich nicht mehr weiter weiß. Es sieht insgesamt wieder sehr danach aus, als ob aus dem entspannenden Stimming ein Zwang geworden ist. Inzwischen leider auch schon mit deutlich sichtbaren körperlichen Spuren. Paul hat an beiden Oberschenkeln blaue Flecken und inzwischen sogar wieder eine blutige Stelle, an der die Haut aufgeplatzt ist. Nachts wacht er auf, weil ihm die Beine schmerzen. Ich bin ratlos. Was kann ich tun? Wie kann ich ihm helfen? Bin ich mit meiner Interpretation völlig auf dem sprichwörtlichen Holzweg? Fällt euch etwas dazu ein? Schreibt mir bitte.