Sehr geehrte Frau Netrebko,

Sie haben mit Medien über den Autismus Ihres Sohnes Tiago gesprochen. Sie sagten, Sie wollen damit anderen betroffenen Eltern Mut machen. Es tut mir leid, Ihnen das so unverblümt schreiben zu müssen, aber das ging wohl ziemlich nach hinten los. Ihre Aussagen (immer vorausgesetzt, die Zitate stammen wirklich so von Ihnen) verfestigen eher das Bild von Autismus als familienzerstörender Tragödie, gegen das Autisten und Angehörige weltweit seit Jahren ankämpfen.

Mir ist es deshalb ein Anliegen, ein paar Dinge zu korrigieren.

Autismus ist keine Krankheit sondern eine Behinderung. Krank sind Autisten nur dann, wenn sie beispielsweise eine Erkältung, eine Grippe oder ein gebrochenes Bein etc. haben. Ihre andere Neurologie ist nicht krankhaft sondern angeboren. Tatsächlich gibt es sogar unter den Autisten Meinungen, dass die Neurodiversität auch nicht per se eine Behinderung darstellt.

Die Aussage „Die Medizin hat inzwischen große Fortschritte gemacht“ stimmt zwar so, ist aber im Kontext zu Autismus fehl am Platz. Es gibt keinerlei medizinische Intervention bei Autismus. Begleitsymptome werden manchmal medikamentös behandelt, am Autismus selbst ändert das aber nichts. Falls Sie auf Therapien abzielen sollten, möchte ich auch da darauf hinweisen, dass manche Therapieformen heftig umstritten sind. Anderen Zeitungsartikeln konnte ich entnehmen, dass Ihr Sohn mit einer Therapie behandelt wird, die von Autisten weltweit abgelehnt wird. Die vordergründigen Erfolge werden viel zu oft sehr teuer erkauft und wiegen die langfristigen Folgen nicht auf.

„Ich glaubte, ich müsse sterben“ werden Sie zitiert, wo es um die Diagnose Ihres Sohnes ging. Dramatisieren Sie da nicht ein bisschen sehr? Sie haben einen tollen Sohn. Dieses Kind war schon immer Autist, die Diagnose hat ihn nicht verändert. Nur Ihr Blick auf ihn änderte sich. Ich weiß nicht, was Sie für Hoffnungen und Träume in ihn gesetzt haben, dass es Sie so sehr erschüttert hat, dass Sie Ihr Leben in Gefahr sahen. Ich weiß aber, dass ich für Tiago hoffe, dass er diese Aussage von Ihnen niemals liest. Wie verletzend muss es für ein Kind sein, diese Worte seiner eigenen Mutter zu finden?

Sie glauben, dass er sich an nichts erinnert, was vor 2 Jahren passierte. Ich glaube das nicht. Vielleicht haben Sie einfach die falschen Fragen gestellt oder noch nicht den Weg zu seiner Art der Kommunikation gefunden. Auch über meinen Sohn wurde gesagt, er würde ja gar nichts von seiner Umwelt mitbekommen und könne sich nicht erinnern. Jahre später bewies er uns das Gegenteil. Sein Detailwissen ist manchmal geradezu unheimlich. Er hat bedeutend mehr mitbekommen als alle dachten und auch heute noch spricht er plötzlich über Dinge, von denen wir dachten, dass er sich keinesfalls daran erinnern könne.

Ich finde toll, dass Sie die Öffentlichkeit für Autismus sensibilisieren wollen. Aber bitte achten Sie darauf, dass Sie nicht die üblichen Vorurteile und Klischees noch verstärken. Autismus ist keine Tragödie, kein Schreckgespenst oder ein familienzerstörendes Monster. Dieses Bild weiter zu verbreiten, schadet langfristig allen. Auch Ihrem Sohn.

Ich wünsche Ihnen und vor allem Tiago alles Gute!

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