Für die Schule leben wir

Es sind Sommerferien. Endlich. In noch keinem Schuljahr waren wir alle am Ende so fertig, kraftlos und erschöpft wie in diesem. Es war immer anstrengend, aber dieses Jahr hat auch den letzten Rest Energie aus uns gesaugt. Und mir wird gerade etwas klar. Wir leben nur noch für die Schule. In mehrfacher Hinsicht.

Paul selbst ist Perfektionist und unheimlich ehrgeizig. Außerdem ist er meisterhaft im kompensieren und möchte um jeden Preis vermeiden aufzufallen. Er möchte seinen Lehrerinnen und Lehrern zu Gefallen sein, möchte gute Noten haben und am Sozialleben teilhaben. Dafür geht er an seine Grenzen. Und weit darüber hinaus. Ehrlich, ich sehe den autistischen BurnOut schon am Horizont winken. Aber unsere Warnungen und Erklärungen verhallen ungehört. Zum Halbjahr hatten wir eine massive Krise. Paul zeigte in der Schule deutlich autistische Verhaltensweisen und Symptome. Zu Hause ging gar nichts mehr. Es gab Gespräche in der Schule, seine Noten in Arbeits- und Sozialverhalten waren katastrophal. Untypisch für ihn. Wir fragten nach, ob denn sein Autismus in der Benotung berücksichtigt wurde. Wir ahnten nicht, was wir damit lostreten sollten. Ich mag gar nicht genau ins Detail gehen, es folgten Horrorwochen für die ganze Familie, die darin gipfelten, dass der Schulbegleiter letztendlich das Handtuch warf, ich heulend vor lauter Schulsystemvertretern erklärte, dass ich nicht einsehe, jedes winzige und intime Detail unseres Familienlebens vor Lehrkräften ausbreiten zu müssen, damit sie uns endlich glauben, dass es Paul wirklich schlecht geht und Vorwürfen, wir würden Pauls Hygiene vernachlässigen, weil er ungekämmt aussieht, wenn er die Wintermütze abnimmt. Himmel, ich habe schon wieder Tränen in den Augen, wo ich diese Zeilen schreibe. Die Schulbegleitung wechselte also, wir erklärten dem verwirrten und verzweifelten Paul, was von ihm erwartet wird und er legte sich mächtig ins Zeug. Zeigte vorbildliches Verhalten, verzichtete auf ihm zustehende Nachteilsausgleiche und Pausen, um die an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen. Wendete alle Kraft für die Schule auf – und brach zu Hause regelmäßig komplett zusammen. Schlief kaum, weil er lernen wollte. Setzte sich unter massiven Erfolgsdruck. Scheinbar erfolgreich. Zumindest nach außen. Vor den Osterferien gab es Lob, wie toll „unauffällig“ und „angepasst“ er plötzlich sei. Wie erfolgreich die Maßnahmen der Schule. Wir warnten wieder, dass er das nicht dauerhaft durchhalten kann. Aber hey, wir sind ja nur diese komischen Eltern, denen man nur mal zeigen muss, wie das richtig geht. (Sarkasmus off) Es kam wie es kommen musste, kurz nach den Osterferien ging es bergab. Die Kraft war verbraucht. Nicht so schlimm wie zum Halbjahr, immerhin. Wir zählten die Wochen bis zum Ende. Ab Anfang Juni ging es dann los mit diesen ganzen Abweichungen. Unterrichtsausfall in Mengen, Projekttage, Sportfest, Wandertage, Nachmittagsveranstaltungen etc. Ich bewundere Paul aufrichtig, er brach tatsächlich immer erst zu Hause zusammen. Auch wenn es bei der Nachmittagsveranstaltung extrem knapp war, da wäre es keine 10 Minuten länger gut gegangen. Ich möchte gar nicht wissen, was passieren würde, wenn er tatsächlich mal in der Schule einen Meltdown bekäme. Gab es doch schon wieder einen halben Aufstand, weil er es wagte, sich seiner neuen Schulbegleitung gegenüber patzig zu äußern. Sowas kommt bei pubertierenden Kindern schließlich niemals vor. Müßig zu erwähnen, dass der Tonfall bei Paul auch ein Indikator für den Grad der Anspannung ist, oder? Aber da sind wir wieder bei „Was wissen schon die Eltern?“.

Damit bin ich auch schon mittendrin in dem Teil der Erklärung, warum wir auch in anderer Hinsicht nur noch für die Schule leben. Wir Eltern beziehungsweise die gesamte Familie. Wir alle müssen ausgleichen, was Paul belastet. Der kleine Bruder erzählte mir irgendwann im Februar unter Tränen, dass seine Klassenlehrerin traurig sei, weil wir als Familie keine Ausflüge am Wochenende mehr unternehmen. Stimmt. Machten wir nicht mehr. Ging einfach nicht. Wir bekamen Paul nicht mehr aus dem Haus. Es eskalierte schon im Vorfeld oder spätestens kurz nach dem Aufbruch. Auch bei Aktivitäten, die die Kinder eigentlich sehr lieben wie schwimmen gehen oder in den Indoor-Spielplatz. An ein halbwegs normales Familienleben war nicht mehr zu denken. Selbst gemeinsame Mahlzeiten waren phasenweise unmöglich. So simple Aufgaben wie Zimmer aufräumen oder mal den Tisch decken brauchte man Paul gar nicht mehr stellen. Selbst kleine Snacks konnte er sich nicht mehr selbst zubereiten. Motorisch kann er das natürlich schon, aber es war einfach keine Kraft mehr dafür da. Ihm neue Dinge beibringen zu wollen? Utopisch.

Jetzt komme ich zu dem Punkt, der uns Eltern massiv belastet. Nicht nur, dass wir mal wieder nicht ernstgenommen werden, das sind wir inzwischen ja schon gewöhnt. Nein, wir sollten unser komplettes Familienleben als wöchentliche Berichte offenlegen. Von Schlaf über den Umgang der Geschwister miteinander bis hin zum Toilettengang. Ich erwähnte oben kurz, dass ich bei dieser Forderung heulend streikte. Wir sind keine Zootiere! Wir schulden niemandem Rechenschaft und es muss doch möglich sein, dass uns die Aussage „Paul geht es schlecht!“ geglaubt wird, ohne dass wir ein Protokoll mit minutiöser Auflistung seiner nächtlichen Unruhephasen an die Schule (!) schicken. Mir erschließt sich auch nicht wirklich, wofür diese teilweise angefragten intimen Details (zum Toilettengang zum Beispiel) nützlich sein sollten. Außer um uns daraus irgendwie einen Vorwurf zu stricken. Apropos Vorwurf: Hat euch schon mal eine Lehrkraft eures Kindes zu einem Treffen mit einer Vertretung der Landesschulbehörde zitiert, um euch dort offiziell mitzuteilen, dass vor ein paar Wochen die Ohren eures Kindes verschmutzt gewesen seien? Klingt surreal? Ist es auch. Ernsthaft, da sitzt du da und weißt einfach nicht, was du darauf entgegnen sollst. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wo die versteckte Kamera ist. Was bringt sowas bitte außer gezielter Demütigung der Eltern vor fremden Menschen? Angenommen, es wäre tatsächlich gewesen wie behauptet und ein Mitschüler hätte sich über euer Kind lustig gemacht, weil ihm etwas Flüssigkeit im Ohr klebt. Würdet ihr dann nicht erwarten, dass ihr umgehend entweder von der Lehrkraft oder der Schulbegleitung darüber informiert werdet? Warum kommt sowas Wochen später zur Sprache? Ergibt das für irgendjemanden hier Sinn?

Ich könnte so noch eine ganze Weile weiter schreiben, teilweise dachte ich echt, ich stecke in einem nicht enden wollenden Alptraum fest, aber ich möchte langsam zum Ende kommen. Wir haben zwar im laufenden Schuljahr gemerkt, wie belastet Paul ist, wir alle es sind, aber richtig bewusst wurde mir das in den letzten Tagen. Wir haben Ferien. Gottseidank. Die Kinder wünschten sich in den letzten Jahren immer mal wieder, im Garten zu zelten. Letztes Wochenende haben wir es endlich umgesetzt. Und Paul weigerte sich erst standhaft, im Zelt zu schlafen. Warum? Weil er mitten in der Nacht für die Schule lernen wollte. In den Ferien. Mir blieb nur ein drastisches Mittel: Ich verbot es ihm. Komplett. Damit dieser Druck endlich mal ein Ende hat. Erst danach (und es folgte aus dem Verbot eine einstündige Diskussion) konnte er sich auf das Abenteuer Übernachtung im Zelt einlassen. Es funktionierte. Er war und ist sehr stolz auf sich. Völlig zu Recht. Erst da wurde mir schmerzhaft klar, dass Paul keinerlei Kapazitäten mehr hatte, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Dabei sind dies die Dinge, die nachhaltig zu seinen Fortschritten und seiner Entwicklung beitragen. Die ihm helfen, selbständiger und selbstbewusster zu werden. Also das, was eigentlich auch von der Schule gefordert wird. Nur dass Schule selbst es ist, die genau das verhindert. Ein Teufelskreis, aus dem ich gerne einen Ausweg wüsste. Ich weiß über die sozialen Medien und die Selbsthilfe, dass es nicht nur uns so geht. Ein weiteres Beispiel:

https://twitter.com/AnitaWorks9698/status/1149043782865866752

Irgendwas läuft gewaltig schief, wenn Autisten und ihre Familien nur noch für die Schule leben. Es muss etwas passieren.

10 Kommentare zu “Für die Schule leben wir

  1. Es ist schrecklich lesen zu müssen wie man an dieser Schule mit Paul umgeht, dass man nicht erkennen will, dass er am Ende seiner Kräfte ist, sich in das Privatleben einmischt, aber keine Tipss der Eltern annimmt, di nunmal Fachleute für ihr Kind sind 😥 Ich wünsche euch, dass ihr während der Ferien ein wenig zur Ruhe kommt. Vielleicht wäre eine Kur nach den Ferien in einer Einrichtung für Autisten eine Idee, damit ihr nochmal eine konkrete Stellungnahme bekommt?

  2. Hallo! Es tut mir leid das zu lesen. Als Einzelfallhelfer im System Schule bekomme ich viele verrückte Sachen mit die oft zum Verzweifeln sind. Aber so bösartig wie Sie es schildern habe ich es noch nicht erlebt. Ich erlebe vielmehr Ahnungslosigkeit und Desinteresse und ein altbackenes System in Beton gegossen. Ich wünsche erholsame Ferien, ohh man, alles Gute!

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  6. Das ist so schrecklich. Warum werden Autisten nicht angenommen wie sie sind und warum versucht man nicht, es ihnen leichter zu machen. Man muss ALLE akzeptieren, nicht nur die „normalen“.i

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