Homöopathie und Autismus

Prolog: An Silvester hat Paul zum ersten Mal Interesse an einem familiären Ritual gezeigt: Er schaute mit uns „Dinner for One“ und lachte sich kaputt. Genau sein Humor. Warum erzähle ich das? Weil mir eben der Dialog wieder durch den Kopf ging. „The same procedure as last year, Miss Sophie?“ Und sie antwortet „The same procedure as every year, James.“ Und so läuft wieder und wieder das gleiche Ritual ab. Wie in diesem Sketch fühle ich mich, wenn das Thema Homöopathie bei Autismus aufkommt.

Mir ist bewusst, dass dieses Thema ein sehr heißes Eisen ist und mich nach dem Lesen dieses Beitrages der eine oder andere vermutlich verfluchen wird. Ich habe auch lange darauf verzichtet, dieses Eisen anzufassen. Aber gefühlt greift das Thema in letzter Zeit um sich wie eine Seuche. Alleine in den letzten 2 Tagen bin ich an mehreren Stellen und in mehreren Gruppen darüber gestolpert. Und so sitze ich jetzt hier und schreibe es nieder.

Lange habe ich gedacht „Ach lass sie doch, ist ja harmlos“, wenn in Gruppen und Foren über Homöopathie geschrieben wurde. „Sind ja nur Zuckerkügelchen, kann ja nicht schaden“. Doch so ist es nicht. Eine der letzten Diskussionen hat es mir ganz deutlich vor Augen geführt. Es ging um Schlafstörungen und eben „autismustypische Verhaltensauffälligkeiten“ wie Stimming, Unruhe, Zappeligkeit, Reizoffenheit und hohe Ablenkbarkeit. Eine Mutter schrieb, dass ihr Kind „Zappelin“ bekommen würde, eine andere schwärmte von Erfolgen mit „Coffea“. Die Nutzerin von „Zappelin“ ist sogar der Meinung, es wäre ja ein rein pflanzliches Präparat und könne von daher nicht schaden. Nun ja, Kaliumphosphat ist mit Sicherheit nicht pflanzlich, aber das nur am Rande. Eigentlich soll dieser Artikel auch keine Grundsatzaufklärung leisten, dass Homöopathie rein gar nichts mit Pflanzenheilkunde zu tun hat, aber ganz unerwähnt möchte ich diesen häufig anzutreffenden Irrtum dann doch nicht lassen.
Zurück zum „Zappelin“. Man könnte hier natürlich auch jedes andere homöopathische Präparat einsetzen, was bei bzw. gegen Autismus so empfohlen und verabreicht wird. Die Mutter ist felsenfest davon überzeugt, dass es bei ihrem Sohn wirkt. Das kann (oberflächlich betrachtet) durchaus so sein, immerhin wirkt bei Homöopathie der Placebo-Effekt bzw. in unserem Beispiel sogar der Placebo-by-proxy-Effekt. Damit ich jetzt keinen Roman schreiben muss, um die Begriffe und Mechanismen zu erklären (meist in Diskussionen anzutreffen als „Aber bei Babys und Tieren wirkt es auch, die kennen kein Placebo“), verweise ich hier auf den Gastbeitrag der ehemaligen Homöopathin Dr. Natalie Grams beim Kinderdok:

https://kinderdoc.wordpress.com/2015/12/17/kinder-und-die-homoeopathie-ein-gastbeitrag/

Zurück zu meinem konkreten Beispiel: Die Mutter gibt ihrem Sohn also die Globuli, damit er nicht mehr so unruhig ist und sich besser konzentrieren kann. Und siehe da: Es funktioniert. Das ist doch toll, oder? Finde ich eigentlich auch. Aber: Was hier funktioniert sind nicht die Zuckerkügelchen sondern die positive Erwartung der Mutter. Durch diese Erwartung einer Wirkung nimmt sie unbewusst eine andere Haltung zum Kind ein, sie wird ein Stückchen gelassener im Umgang mit ihm. Dadurch senkt sich für ihn der spürbare Stress, die Reizbelastung und er wird ruhiger. Unsere Kinder spüren nämlich sehr genau, ob wir Eltern angespannt sind und spiegeln das dann sehr schnell in ihrem Verhalten wieder. Mal Hand auf´s Herz, wer hat es noch nicht erlebt? Termin, Zeitdruck, Kind trödelt, Stresspegel steigt, Mutter wird ungeduldiger, Kind wird immer unruhiger, man steigert sich gegenseitig hoch. Im Extremfall bis hin zum Meltdown. An einem anderen Tag ohne Zeitdruck kann man das Trödeln des Kindes plötzlich viel gelassener sehen und dann eskaliert die Situation gar nicht erst. Stimmt´s? Diesen Effekt kann man für sich nutzen. Ich habe mir regelrecht antrainiert, ruhig zu bleiben. Dinge nicht persönlich zu nehmen. Das überträgt sich sehr stark auf Paul. Dieser Weg erfordert aber Eigenreflexion und auch eine gewisse Grundkenntnis über Autismus und die Mechanismen bei Overload, Meltdown und Shutdown. Wenn ich weiß, auf welche Reize mein Kind wie reagiert, dann kann ich diese Reize aktiv vermeiden oder zumindest minimieren. Die Globuli wirken da wie eine Krücke. Die Mutter fährt halt ihre Aufgeregtheit und ihre Erwartungshaltung nicht bewusst sondern unterbewusst herunter, das Ergebnis ist aber ähnlich. Sie argumentierte dann noch damit, dass die Logopädin ja auch eine bessere Konzentrationsfähigkeit festgestellt habe, aber auch das ist logisch. Wenn das Kind weniger im Overload bei der Logopädie ankommt, hat es selbstverständlich mehr Kapazitäten sich darauf einzulassen, als wenn es nur noch damit beschäftigt ist, nicht direkt in der Praxis einen Meltdown zu kriegen und sich selbst zu schützen. Wenn man da jetzt also lieber auf Homöopathie setzt statt bei der Reizüberflutung anzusetzen, dann beraubt man sich selbst einer sehr mächtigen Möglichkeit, den Bedürfnissen des Kindes gerecht zu werden. Einfach weil man es sich nicht bewusst macht.

Mindestens ebenso wichtig ist aber auch, was ich dem Kind durch die Gabe von Globuli vermittele: „Du bist nur mit Medikamenten in Ordnung.“ Das Kind kann nämlich nicht wissen, dass in den Kügelchen keine Wirkstoffe enthalten sind. Für ein Kind macht es keinen Unterschied, ob ich da nun Kügelchen gebe oder eine Paracetamol.

Und zum Abschluss noch mein persönlicher Tiefpunkt bei Homöopathie und Autismus: Eine Geschlechtskrankheit soll Autismus kurieren. Und nein, das ist kein Witz. Ich rede vom Erreger der Syphilis, den Homöopathen hoch verdünnt…äh…hoch potenziert Autisten verabreichen. Was soll man davon halten? Würde man glauben, was der Homöopathie angeblich zu Grunde liegt, nämlich die Weitergabe und Steigerung der „Energie“durch das Verdünnen und Verschütteln, wäre das in etwas vergleichbar damit, dass ich das Kind mitten im Ozean über Bord werfe, weil ich es damit von seiner Höhenangst kurieren will. Glaube ich nicht an wundersame Energievermehrung durch Verdünnung, öhm, nö, da fällt mir einfach nichts ein, warum man das dann geben sollte.

Mir ist klar, dass die Gabe von homöopathischen Mitteln bei den Müttern (meist sind es ja die Mütter) das gute Gefühl auslöst, aktiv etwas getan zu haben. Aktiv dem Kind geholfen zu haben. Ich verstehe den Wunsch danach. Es ist schwer zu ertragen, seinem Kind im Meltdown nur ziemlich hilflos zusehen zu können. Da geben Globuli eben das Gefühl selbst eingreifen zu können. Doch lasst euch gesagt sein: Ihr könnt aktiv etwas für euer Kind tun, ganz ohne Globuli. Ihr könnt aufmerksam sein, aktiv die Reize, die auf euer Kind einstürmen, reduzieren. Ihr könnt lernen, die Signale eures Kindes zu deuten und so brisante Situationen im Laufe der Zeit zu umschiffen oder zumindest zu entschärfen. Ihr könnt aktiv Hindernisse aus dem Weg räumen. Ihr könnt das Umfeld über die Bedürfnisse eures Kindes aufklären. Es gibt vieles, was ihr tun könnt. Ihr seid nicht hilflos. Ihr braucht keine Homöopathie.

Epilog: Ich ziehe mich nun in die oberen Räumlichkeiten zurück. Wir sehen uns im nächsten Jahr bei der nächsten Homöopathie-Diskussion. „The same procedure as every year.“ Aber vielleicht konnte ich ja den einen oder anderen Leser zum Nachdenken bewegen. 

8 Kommentare zu “Homöopathie und Autismus

  1. Danke für diesen tollen Text! Ich hatte schon befürchtet, mit dieser Meinung alleine da zu stehen. Vor allem dieses ständige „probier die Kügelchen doch wenigstens, schaden kann es ja nicht“ geht mir gewaltig auf die Nerven. Genauso wie der Druck von außen, das Kind müsste unbedingt zu einer Therapie.

  2. Dito! Autismus ist eine angeborene Behinderung und lässt sich nicht weg kuren… egal ob mit Chlor, Syphilis oder Kügelchen.
    Das einzigste Homöpatische Mittelchen, an das ich glaube, ist Arnika. Aber als Tinktur, nicht als Kügelchen. (Kügelchen…. ich lach mich scheckig: 1 Mio Kügelchen und 1 Tropfen Essenz soll die Schwingungen des Stoffes übertragen…) Sorry, ich glaub nicht dran! Vielleicht bin ich auch so extrem in der Antihaltung, weil ich schonmal richtig abgezockt wurde bei einem Homöopathen.
    Die Kinder brauchen keine Therapie, sondern die Umwelt!

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