Ich bin eine helikopternde Rabenmutter

Irgendwie mehren sich in den letzten Wochen mal wieder die Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, die den Untergang der Zivilisation durch mangelnde elterliche Kompetenzen beschwören. Wahlweise „irren Eltern orientierungslos mangels Vorbildern“ durch die Kindererziehung, sind gnadenlose Helikoptereltern, die ihre Kinder verhätscheln und ihnen alles abnehmen, vernachlässigen das Kindeswohl, weil sie die Kinder zu viel selbst entscheiden lassen oder lassen sie sozial verwahrlosen. Je nach Kritiker wird das dann festgemacht an Mediennutzung und Medienzeiten der Kinder. An der Anzahl der Mitgliedschaften in Vereinen. Ob die Eltern die Hausaufgaben unterstützen (auch da unterteilt in „zu viel“ oder „zu wenig“ Unterstützung). Ob die Eltern sich für schulische Aktivitäten engagieren. Und so weiter und so fort.

Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.

deutsches Sprichwort

Das Sprichwort sagt eigentlich alles aus. Egal, was die Eltern machen, irgendwer hat immer etwas daran auszusetzen. Gefühlt kann man es doch nicht hundertprozentig richtig machen für alle Kritiker. Dafür sind auch die unterschiedlichen Richtungen der Kritik zu verschieden.

Ich bin zunehmend genervt von diesen ganzen Vorwürfen. Speziell, wenn man dann die Kommentarspalten unter solchen Artikeln liest. Dort klopfen sich verschiedene Schreiber gegenseitig auf die virtuelle Schulter, wie toll sie das doch selbst machen und wie dumm alle anderen sind. Nicht wissend, dass bei der Zeitschrift um die Ecke genau ihre Art der Erziehung dann als unverantwortlich kritisiert wird. Dazu mal ein aktuelles Beispiel: Eltern, die ihre Kinder im Grundschulalter nicht alleine mit ihren Freunden außer Sicht- und Hörweite eines Erwachsenen spielen lassen, sind Helikoptereltern. Kürzlich ertrank ein neunjähriger Junge beim Spielen mit seinen Freunden an einem hochwasserführenden Bach. Unter der tragischen Schlagzeile tauchten fast sofort und in hundertfacher Ausführung drastische Vorwürfe und Schuldzuweisungen an die trauernden Eltern auf. Sie wären furchtbare Rabeneltern und sollten zur Rechenschaft gezogen werden dafür, dass sie das Kind unbeaufsichtigt gelassen haben.

Bei uns kommt zusätzlich noch eine weitere Baustelle dazu, bei der man es auch niemandem so richtig recht machen kann: die Behinderungen. Der heutige Artikel hat mir erklärt, dass Eltern, die ihre Erstklässler nicht alleine zur Schule gehen lassen, Helikoptereltern seien. Paul geht nicht alleine zur Schule. Das liegt nicht nur an dem knapp 3 Kilometer langen Schulweg mit der Überquerung zweier Hauptstraßen oder daran, dass wir 200 m zu nah an der Schule wohnen, um ein Busticket gestellt zu bekommen. Nein, bei Paul kommen noch behinderungsbedingte Faktoren dazu. Er ist kleinwüchsig und zwar inzwischen für seine Größe normalgewichtig, wiegt aber trotzdem nur knapp über 20 Kilogramm. Sein Ranzen wiegt im Durchschnitt 7 Kilogramm, obwohl viele Bücher und Materialien in der Schule bleiben können. Paul ist nur bedingt verkehrssicher, er hat Probleme mit der Orientierung und der Wahrnehmung von Gefahren im Straßenverkehr. Momentan wird Paul mit dem Behindertenfahrdienst zur Schule gefahren und wieder nach Hause gebracht. Ob dieser Fahrdienst im nächsten Schuljahr erneut bewilligt wird, wissen wir noch nicht. Falls nicht, werden wir ihn dann eben selbst mit dem Auto zur Schule bringen und wieder abholen. Und erfüllen damit ganz klar die Definition der Helikoptereltern. Die Gründe, warum wir so handeln, wie wir handeln, sehen die Urteilenden ja nicht auf den ersten oder zweiten Blick.
Von anderer Seite wird uns ganz gerne mal zum Vorwurf gemacht, dass wir Paul zu wenig soziale Kontakte in seiner Freizeit ermöglichen. Das erfüllt wiederum die Definition von Rabeneltern. Wir würden seine Bedürfnisse vernachlässigen. Dabei ist es genau andersrum. Eben weil wir wissen, wie sehr Paul durch unstrukturierte soziale Kontakte ge- und überfordert wird, dosieren wir die Anforderungen in der Freizeit sehr genau und ermöglichen ihm Rückzug und Erholung. Auch wieder falsch. Aber für Paul offenbar genau richtig. Ich könnte jetzt noch beliebig viele Beispiele finden, die mich wahlweise zur Rabenmutter abstempeln oder eben zur hysterischen Helikoptermutter qualifizieren würden. Aber ich glaube, es ist verständlich, was ich meine.

Außenstehende sehen aber gar nicht, warum Paul seinen Schulranzen nicht selber trägt. Warum er mit dem Taxi zur Schule fährt. Warum er nicht im Fußballverein ist. Oder warum wir ihn nach ein paar Wochen aus dem Schulchor genommen haben. Diese Leute maßen sich aber an, über meine Erziehungsfähigkeit zu urteilen. Und das ärgert mich gewaltig. Noch dazu in dieser Endzeitstimmung, die manche Schlagzeilen suggerieren. „Eine verlorene Generation von Kindern“. Das ist völlig unnötig und auch kein bisschen hilfreich. All die verschiedenen Ansprüche kann man gar nicht erfüllen als Eltern. Wie sehr man sich auch bemüht. Deshalb würde weniger Panikmache und mehr Gelassenheit allen Seiten gut stehen. Daher schreie ich es laut heraus:

„Ich bin eine helikopternde Rabenmutter und fühle mich gut dabei!“ 

 

20 Kommentare zu “Ich bin eine helikopternde Rabenmutter

  1. Du sprichst mir aus dem Herzen, butterblumenland. Es grüßt eine kindeswohlgefährdende Mutter, die ihr Kind absichtlich behindert hält. Aha – das wusste ich auch erst aus der Gerichtsakte, dass ich vom Jugendamt so eingeschätzt werde. Weil unsere Familie sich weigerte, unseren Sohn in die Psychiatrie zu geben (in Absprache mit den behandelnden Ärzten und Therapeuten), habe ich in Akten nun diesen tollen Stempel. Und niemand von den Verantwortlichen bezweifelt den mal … Ach – wie gerne wäre ich doch nur eine Helikopter-Rabenmutter … dabei fühle ich mich genauso wohl wie du.

      • Danke – kann man immer brauchen. Ich bin leider so schrecklich nachtragend, deswegen habe ich diese Stigmatisierung noch nicht so ganz verarbeitet. Und der Stempel für mich ist ja gleichzeitig der dicke Stein, der unserem Sohn in den Weg gelegt wurde. Doch zum Glück ist Schule vorbei. Die Uni steht vor der Tür und wartet – mit offenen Armen und ganz viel Unterstützungsangeboten. Himmlische Aussichten statt höllischen Erniedrigungen.

  2. Die Warum-Frage – es gäbe Worte wie „Helikopter-Elter(n)“ nicht, würde sich öfter mal „Warum?“ gefragt.
    Mich (und ich habe nicht mal Kinder!) stehe immer wieder mal so zwischen verschiedenen Elterngruppen und merke, wie wenig die Menschen von einander glauben/annehmen können, dass sie das jeweils Bestmögliche für/mit/an ihren Kindern tun. Niemand mag (darf) glauben (dürfen), dass „das Beste“ viele Gesichter hat und vielleicht gar nicht so wichtig ist. Manchmal reicht ja auch „das Gutgenugste“ oder das „geht-so-ste“ um weiter machen zu können, ohne, dass Kind oder Familie insgesamt Schaden nimmt.
    Aber ach – wem schreib ich das ^^

    Viele Grüße!

  3. Ja, sind wir wohl auch. Und ich denke da ist nichts falsch daran. Wir haben übrigens mehrere Autisten die auch noch recht unterschiedlich sind, gerade bei den Mädels fällt es nicht so sehr auf wenn man nicht weiß worauf man achten muss, was natürlich immer wieder zu Unverständnis anderer Eltern und Lehrer führt, weil „die Kinder haben doch nichts“ und wir dürfen die Katastrophen daheim dann wieder ausbaden. Und die Vorsicht die wir zum Teil walten lassen müssen wird bestimmt oft als „Helikoptern“ angesehen, da unsere Kinder aber sonst explizit auf Selbständigkeit erzogen werden sind wir „helikopternde Rabeneltern“.

  4. Wie recht du hast …

    Und auch ich bin so eine Mama und dein Text spricht mir 1:1 aus der Seele – so wie er da steht hätte er von mir sein können.

    Ich hab mich heute auch soooo geärgert über diesen Artikel des Lehrers …

  5. Es geht mir genauso…vor allem: „Du rennst ja immer hinter ihm her…“ Das ist voraussichtliches Verhalten, Gefahren abwenden, eben weil unser Kind „besonders“ ist und die Gefahren im
    Straßenverkehr nicht abschätzen und wahrnehmen kann. Aber da sind wir auch wieder bei meinem Lieblingsthema: Kind, dem man die Behinderung nicht gleich ansieht oder besser anmerkt.
    Dann „helikoptern“😜 wir mal getrost weiter, denn keiner der unseren Weg geht, kann urteilen oder pauschalisieren….😘

  6. Das kann man aber auch nur sagen, wenn man auf der von Extremen dominierten Diskussion bleibt. Aber andererseits ist es auch müßig, jedem einzelnen erneut alles erklären zu müssen. Daher kann ich diesen Schlussatz voll nachvollziehen.

    Es ist in jedem Fall eine neue und vermutlich viel zu sehr vernachlässigte Perspektive. Daran sieht man aber auch, dass viele Probleme weniger wegen „DER Helikoptereltern“ existieren, sondern häufiger wegen der Nicht-Bereitschaft sinnvolle individuelle Lösungen anzubieten.

    • Wenn man in solchen Diskussionen anfängt, sich zu erklären, heißt es ganz schnell „Nein, DAS (oder dich) meinen wir natürlich nicht, wir meinen die anderen Helikoptereltern/Rabenmütter.“ Und dann wird weiter fleißig verallgemeinert, ohne hinter die Kulissen schauen zu müssen oder nach den Gründen zu fragen, warum diese Eltern es genau so und nicht anders handhaben.

      • Stimmt irgendwie. Es wird sich zu sehr darauf versteift, dass es falsch ist, aber zu wenig darauf konzentriert, was sich beschuldigte Eltern eigentlich dabei denken. Es wird einfach angenommen, dass sie auf bestimmte Art und Weise denken.
        Dadurch, dass die Gründe für bestimmte Entscheidungen aber sehr individuell sind, führt dazu, dass sich betreffende Eltern vom Vorwurf nicht angesprochen fühlen, und falls doch, dann zu recht brüskiert sind.
        Eigentlich killt das jeden Versuch einer Lösungsfindung schon von vornherein.

  7. danke für den artikel, ich war…bin…ist man das noch, wenn kind kinder hat? , auch immer ne heli-rabenmutter, ich war einfach nicht bescheuert genug, meiner tochter (adhs) dinge abzuverlangen, die mangels dopamin im frontalen cortex so nicht funktionieren

  8. Vielen Dank, ich dachte oft beim Lesen: ja genau, also, bei uns war das so… aber ich spar mir die Beispiele und stimme einfach nur kräftig zu!

  9. Ich gebe dir in vielen Punkten Recht.
    Aber auch mir, deren Kinder wildwuchs-rabenmutter-mäßig gediehen sind, fallen heute zunehmend große Unsicherheiten bei den Eltern auf.
    Sie projezieren oft die eigenen Ängste auf den Nachwuchs. Und das halte ich für falsch.
    Und nicht nur ihre Ängste, sondern auch ihre Vorurteile, Meinungen etc. geben sie an ihre Kinder weiter, denen sie damit das Denken und Handeln außerhalb von Schule (wo sie das Höchstmaß an Leistung von ihnen erwarten) ab.
    Mir fehlt oftmals der induviduelle Blick der Eltern auf ihr Kind. Was kann es, was möchte es …

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