Es ist wieder Weltautismustag. Die Aufklärung über Autismus ist mir ein wichtiges Anliegen geworden in den letzten Jahren. Anlässlich des diesjährigen Weltautismustages habe ich daran zurückgedacht, wie es war als ich das erste Mal mit dem Thema konfrontiert wurde. Und was mir geholfen hätte. Ich schreibe heute einen Brief an mich selbst vor knapp 4 Jahren. Und hoffe, damit auch Eltern helfen zu können, die neu mit der Diagnose Autismus konfrontiert werden.
Liebe Mama,
du hast soeben erfahren, dass dein Kind Autist ist. Du bist durcheinander, verwirrt und fragst dich, was genau diese Diagnose nun aussagt. Die Ärzte haben dir erzählt, dass Autismus unheilbar ist. Was genau das bedeutet, haben sie dir aber nicht erklärt. Sie gaben dir die Adresse eines Autismustherapiezentrums, schlugen dir noch ein paar weitere Untersuchungsmöglichkeiten wie ein MRT und eine humangenetische Untersuchung zum Ausschluss von Syndromen, die Autismus als Symptom haben, vor und haben dich dann freundlich hinaus komplimentiert. Lass mich dir ein paar Dinge erzählen.
Der allererste und wichtigste Punkt: Dein Kind ist immer noch dasselbe wie vor der Diagnose. Das klingt jetzt vielleicht auf den ersten Blick banal. Aber auch du wirst dich vielleicht dabei ertappen, dein Kind plötzlich mit anderen Augen zu sehen. Jede Verhaltensweise überkritisch zu betrachten und zu hinterfragen. Das ist prinzipiell nicht schlecht, wenn es in einem gewissen Rahmen geschieht. Um die Wahrnehmung deines Kindes besser zu verstehen zum Beispiel oder um Stressfaktoren zu erkennen. Du darfst dabei aber nicht übersehen, dass dein Kind auch immer noch ein Kind ist. Und du seine Mama, seine Vertrauensperson und sein sicherer Halt. Achte darauf, dass du nicht von der Mama zur Therapeutin mutierst. Dafür sind andere Menschen zuständig. Natürlich solltest du auf seine besonderen Bedürfnisse eingehen, um ihm und euch das Leben zu erleichtern, aber vergiss dabei nicht, auch einfach zu leben.
Glaub den Fachleuten nicht alles, was sie dir erzählen, aber misstraue ihnen auch nicht grundsätzlich. Sie haben dir gesagt, dass dein Kind schwer geistig behindert wäre. Ich kann dir heute schreiben, dass sie sich gründlich geirrt haben. IQ-Tests sind nicht für Autisten gemacht, sie können bestenfalls ein grober Anhaltspunkt sein. Sie haben dir auch gesagt, dass dein Kind vielleicht nie sprechen wird. Es plappert wie ein Wasserfall. Klar, es gibt autistische Kinder, die niemals sprechen lernen. Das bedeutet aber nicht, dass man mit ihnen nicht kommunizieren kann. Nimm dir die Zeit herauszufinden, welche Sprache dein Kind spricht.
Hinterfrage die Dinge. Du wirst anfangen, dich über Autismus zu informieren. Und über Therapiemöglichkeiten. Dabei wirst du auch Internetseiten und Bücher finden, die behaupten, dass sie die ultimative Methode kennen, um Autismus zu heilen. Das ist Quatsch. Die Ärzte haben dir richtig gesagt, dass Autismus unheilbar ist. Es ist auch keine Krankheit. Es ist eine andere Form des Seins, das Gehirn ist einfach anders verdrahtet als bei anderen Menschen. Es gibt kein Kind „hinter dem Autismus“, das befreit werden kann. Der Autismus ist ein untrennbarer Teil der Persönlichkeit. Wenn dir also jemand erzählt, er könnte Autismus heilen, dann will dieser jemand nur dein „Bestes“: Dein Geld! Es gibt keine Wunderdiät, kein Zaubermittel. Hüte dich auch vor bestimmten Therapieformen, die darauf basieren, dass dein Kind sich anzupassen hätte. Dein Kind ist gut so wie es ist. Die beste Möglichkeit, ihm zu helfen, ist es, wenn du eine Therapie findest, die ihm die Welt so erklärt, dass es sie versteht. Und ihm Werkzeuge an die Hand gibt, mit dieser Welt zurechtzukommen. Und dir als Mutter und dem Umfeld erklärt, wie man Strukturen schaffen kann, Abläufe organisieren, Rückzugsmöglichkeiten schaffen und Sicherheiten bieten, die es dem Kind ermöglichen, teilzuhaben. Es wird Menschen geben, die dir sagen, dass dein Kind unbedingt auch noch diese und jene Therapie machen soll. Ja, Logopädie und Ergotherapie sind hilfreich. Aber das muss nicht alles zeitgleich sein und auch nicht sofort. Wäge gut ab, wie viele zusätzliche Termine ihr gut schaffen könnt, ohne eure Kraft überzustrapazieren.
Lass die Trauer zu. Auch das klingt jetzt merkwürdig. Du fragst dich vielleicht, was ich meine. Es wird Momente geben, in denen dir schmerzhaft bewusst wird, dass euer Leben irgendwie anders verläuft, als du es geplant hast. Und anders als das Leben von Familien mit „normalen“ Kindern. Es ist okay, wenn dich das manchmal traurig macht. Du darfst ruhig weinen, wenn dir danach ist. Achte nur darauf, dass die Trauer nicht übermächtig wird. Euer Leben ist zwar anders aber nicht schlechter. Anstrengender. Aber dafür wirst du dich über Dinge freuen, die für andere Eltern selbstverständlich scheinen. Eine Umarmung, ein „Ich hab dich lieb, Mama“, eine Nacht, in der das Kind nur einmal aufgestanden ist. Bewahre dir einen Blick für die Kleinigkeiten, es lohnt sich.
Kämpfe für die Rechte deines Kindes. Du wirst dich mit Behörden und Krankenkasse auseinander setzen müssen. Du kannst eine Pflegestufe beantragen und zusätzliche Betreuungsleistungen. Du kannst einen Schwerbehindertenausweis beantragen. Deinem Kind steht Eingliederungshilfe zu, z.B. in Form eines Schulbegleiters oder auch die Autismustherapie.
Du bist nicht allein. Der Austausch mit anderen Eltern, die mit den gleichen Problemen konfrontiert sind, ist ungemein hilfreich. Es gibt Selbsthilfegruppen, Onlineforen und Facebookgruppen. Du kannst auch selbst nach Gleichgesinnten in deiner Region suchen und selber eine Selbsthilfegruppe gründen. Das ist gar nicht schwierig.
Wenn du etwas über Autismus und die Wahrnehmung deines Kindes erfahren willst, frage erwachsene Autisten. Niemand kann dir besser erklären, wie dein Kind die Welt sieht, als Menschen, die ebenfalls diese andere Wahrnehmung haben. Nicht alles trifft 1:1 auch auf dein Kind zu, kennst du einen Autisten, kennst du genau einen. Autismus ist sehr individuell. Es gibt jede Menge Blogs, Bücher, Foren und Facebookgruppen, in denen erwachsene Autisten über sich schreiben und Eltern mit Rat zur Seite stehen.
Mach dir bewusst, dass dein Kind sich nicht „unangemessen“ verhält, weil es dich ärgern will. Es kann einfach nicht anders. Es schreit und schlägt nicht, weil es schlecht erzogen ist sondern weil es noch nicht gelernt hat, anders mit Überforderungssituationen oder seinen Gefühlen umzugehen.
Leg dir ein dickes Fell zu. Du wirst auf Vorurteile treffen und blöde Kommentare zu hören bekommen von Menschen, die einfach keine Ahnung haben. Wenn du einen guten Tag hast, kannst du dir die Mühe machen, diese Menschen aufzuklären. An schlechten Tagen solltest du das Gerede ignorieren und dir deinen Teil denken.
Dein Kind wird sich entwickeln. Es wird sein ganz eigenes Tempo haben, aber es wird lernen. Autismus gilt als Entwicklungsverzögerung. Mach dir das immer wieder bewusst. Wenn dein Kind jetzt auf dem Stand eines 2jährigen ist, dann bringt es nichts, zu erwarten, dass es Dinge kann, die ein 4jähriges normalerweise können müsste. Aber auch das bleibt nicht so. Bei Autismus ist alles möglich. So wie es manchmal scheinbare Rückschritte gibt, so gibt es auch immer wieder regelrechte Entwicklungssprünge.
Dein Kind liebt dich. Auch wenn es Körperkontakt und Küssen ablehnt, liebt es dich. Es zeigt es nur anders. Wenn du genau hinsiehst, wirst du lernen, diese Zeichen zu erkennen.
Herzlich willkommen im abenteuerlichen Leben mit einem autistischen Kind.
Hat dies auf Sunnys Space rebloggt und kommentierte:
Ein großartiger Text!
Danke.
Pingback: zum Weltautismustag 2015 - Ellas Blog
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Als ich meine Diagnose vor 2 Jahren (also mit 28) bekam, hätte ich mir gewünscht, dass mir jemand so etwas sagst, wie du hier in diesem ‚Brief‘ schreibst.
Sehr treffende Worte, die du gefunden hast 🙂
Oh, vielen Dank. Ich kann nur erahnen, wie es sich als Erwachsener anfühlen könnte, die Diagnose zu bekommen.
Treffender hätte der Text nicht sein können, danke.
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Ich habe 2 autistische Persönlichkeiten geboren und hätte mir so einen Brief zur Begrüßung gewünscht!
Möchte diesen Text meiner Mutter und meiner Schwester geben, denn die Art, wie über meinen kleinen Neffen verhandelt wird, weil der noch nicht deutlich spricht und motorisch „hinterher“ ist, macht mich unfassbar unwohl. Sie haben doch schon eine_n Autist_in in der Familie – mich.
Aber das zählt ja nicht, weil ich so heftig maskiere (Diagnose erst als Erwachsene_r bekommen.)
Eins könnte meinen, sie lernen daraus, was das mit mir gemacht hat.
Danke für den Text und deine pragmatische und werschätzende Art!